Dauerhaft bezahlbares und selbstbestimmtes Wohnen (09/16)

Podcast

Entstanden aus Hausbesetzungen, beweist das Mietshäuser Syndikat, wie man dauerhaft bezahlbaren Wohnraum schafft, und wie selbst Geringverdiener*innen selbstbestimmt ohne Vermieter*in leben können. Fast 200 Hausprojekte gibt es mittlerweile bundesweit. Wie geht das? Darüber sprechen wir mit Marie und Julia von den Tübinger Hausprojekten Münze 13 und Hegel 7.

Lesedauer: 24 Minuten

Steigende Mieten, Luxussanierungen, Verdrängung von Menschen mit niedrigem und normalem Einkommen aus den Innenstädten… So gibt es der Markt eben vor, kann man nichts dagegen machen? Von wegen! Entstanden in den 1980er aus Hausbesetzungen, beweist das Mietshäuser Syndikat heute, wie man dauerhaft bezahlbaren Wohnraum schafft (und das noch unterhalb der Mieten im sozialen Wohnsektor), und wie selbst Geringverdiener*innen selbstbestimmt ohne Vermieter*in leben können.

Und: Die Hausprojekte haben in aller Regel auch eine Strahlkraft in die Stadtgesellschaft hinein, etwa mit eigenen Kitas oder Cafés ohne knallharten Profitdruck. Nachhaltiges Wirtschaften und Wohnen eben.

Fast 200 Hausprojekte und noch viel mehr Bewohner*innen gibt es mittlerweile bundesweit in diesem Verbund, Tendenz steigend. Wie geht das? Wie sieht es in so einem Hausprojekt aus? Inwiefern geht es noch weiter als eine Baugenossenschaft? Und wie lebt es sich dort im Alltag?

In dieser Podcast-Folge sprechen wir mit Marie und Julia von den Tübinger Hausprojekten Münze 13 und Hegel 7 und lassen uns durch die Münze 13 und ihre bewegte Geschichte führen.

Im Gespräch wird klar: Die Bewohner*innen schätzen an den Hausprojekten nicht nur das bezahlbare und selbstbestimmte Wohnen, sondern auch der damit verbundene Zugewinn an Miteinander.

Das ist aber trotzdem lange nicht die halbe Miete: Eine soziale Wohnpolitik braucht es weiterhin, denn das Mietshäuser Syndikat kann nicht alles richten.

Hier geht es zur Podcastepisode

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Podcast mit:

  • Marie vom Tübinger Hausprojekt Münze 13 im Mietshäuser Syndikat

  • Julia vom Tübinger Hausprojekt Hegel 7 im Mietshäuser Syndikat

  • Matthieu Cuisnier, Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg

 

Diese Podcastreihe wurde im Rahmen des Verbundprojektes„Wirtschaften mit Zukunft“ konzipiert.

 

Shownotes:

Mietshäuser Syndikat: https://www.syndikat.org/ 

Projekt „Münze 13“: https://muenzgasse13.de/

Projekt „Hegel 7“: https://www.hegelstrasse7.de/ 

Heinrich-Böll-Stiftung Baden-Württemberg: https://www.boell-bw.de/de

Transkription:

Intro: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge der Reihe „Böll Regional“, in der wir euch Projekte aus verschiedenen Bundesländern vorstellen. Diese Staffel dreht sich um die Frage nach einem Wirtschaften mit Zukunft. Wir werden dabei Projekte und Unternehmen aus unterschiedlichen Branchen präsentieren, die uns Wege zu einem nachhaltigen Wirtschaften zeigen.

 

Matthieu Cuisnier: Ich bin Matthieu Cuisnier von der Heinrich Böll Stiftung Baden-Württemberg und heute sind wir in der beschaulichen und alten Universitätsstadt Tübingen. Ich bin hier, um mit Marie und Julia zu sprechen. Sie wohnen in zwei Tübinger Hausprojekten. Julia wohnt im Hausprojekt Hegel 7 beim Hauptbahnhof.

 

Julia: Hallo!

 

Matthieu Cuisnier: Und Marie ist am Hausprojekt Münze 13 beteiligt, vor dem wir gerade stehen. Hallo, Marie.

 

Marie: Hallo.

 

Matthieu Cuisnier: Die Hausprojekte Münze 13 und Hegel 7 haben sich in einem bundesweiten Zusammenschluss namens Mietshäuser-Syndikat angeschlossen. Dessen Leitspruch verspricht Selbstorganisiert wohnen. Solidarisch wirtschaften. Wir beschäftigen uns also heute mit einer innovativen, sozialen, demokratischen Form des Wohnens und gar des Immobilienbesitzes. Ich bin gespannt, was wir heute für konkrete Ansätze erfahren. Und wir befinden uns gerade vor der Münzgasse 13, genannt Münze 13. Die Straßen sind aus Kopfsteinpflaster, malerische Fachwerkhäuser in den umliegenden Straßen. Die Münze 13 ist ein großes und offensichtlich altes Haus in der Tübinger Altstadt. Viele Graffitis an der Wand der Münze 13 weisen sicher auf den bewegten und alternativen Charakter des Hausprojektes hin. Magst du uns kurz durch das Haus führen, Marie?

 

Marie: Ja, klar. Gerne. Kommt rein. So, wir stehen jetzt hier in der Eingangshalle. Ihr merkt schon, es hallt, die ist ziemlich hoch. Und hier sieht man ein bisschen was von der alten Geschichte. Die Münze 13, die gibt es nämlich schon seit über 300 Jahren und war früher ein Stipendiaten-Wohnheim. Die Besonderheit war tatsächlich, es war das erste konfessionslose Stipendiaten-Wohnheim in Tübingen. Und hier gibt es noch einen Stein, der aus der Gründerzeit stammt. Und was Sie sonst noch hier sehen in der Eingangshalle ist einmal ein Foodsharing-Verteiler, da ist gerade nur ein bisschen Brot drin, aber der wird oft eher abends dann sehr gut gefüllt. Und deswegen gehen hier auch immer viele Leute ein und aus und wir haben noch so ein kleines Umsonst-Regal. Der Wasserkocher sieht vielversprechend aus, ansonsten ein paar Bücher…

Ja, und dann haben wir hier an den Wänden auch die Spuren von jahrzehntelanger Subkultur. Tags, Graffitis, viele Aufkleber, viele Plakate für Veranstaltungen. Genau. Und so kommt man rein in die Münze. Sieht erstmal ein bisschen wild aus, zugegebenermaßen. Dann biegen wir mal links ab.

Hier geht es rein in unsere Hausbar, den Blauen Salon! Der blaue Salon, der ist eigentlich das, wofür die Münze 13 bekannt ist. Den gibt es ja auch schon seit vielen Jahrzehnten. Und er ist einfach ein Treffpunkt im Herzen der Altstadt. Fast alle Wohnprojekte haben irgendeine Art von Hausbar oder Räumen, wo sie auch für die Gemeinschaft in der Stadt was beitragen wollen. Und für uns ist ganz klar: Der Blaue Salon ist schon was Besonderes. Man kann hier natürlich günstige Getränke haben. Man kann aber auch einfach reinkommen mit seinem eigenen Getränk und niemand ist dagegen. Das heißt, es ist einfach so ein Treffpunkt, wenn drum herum alles kommerziell ist und teuer: Hier kann wirklich jede Person einfach reinstiefeln. Und was auch wichtig ist, wir haben ganz viel Kulturprogramm. Also vor allem die Konzerte sind was Besonderes, weil es Konzerte sind von Bands aus der ganzen Welt, verschiedene Genre auch und natürlich immer freier Eintritt. Ganz wichtig für uns, dass es zugänglich ist. 

Hier von der Decke hängen gerade durchsichtige Nylon-Fäden. Die sind noch die Spuren von der Ausstellung, die haben wir aus dem Haus organisiert. Da gibt es eine Ausstellung mit zwei Teilen. Einmal erzählen ehemalige Bewohnerinnen, was für sie die Bedeutung der Münze ist, weil uns das auch interessiert: Wie hat sich das Wohnprojekt im Laufe der Jahre gewandelt? Es gibt es seit 1977. Am Anfang war es ein Hotspot der Politszene. Hier gab es Politbüros, ganz viele Initiativen. Es haben auch noch viel mehr Menschen gewohnt als jetzt. Die haben sich dann in die Zimmer reingequetscht und hatten gar keine festen Schlafplätze. Dann später wurde es eher so ein Punk-Hotspot. Also viele Bands haben hier geprobt und haben sich auch hier getroffen. Und dann war es die Zeit des Hedonismus, die Altstadt als Wohnzimmer erleben. Heute haben wir immer noch die Konzerte, es gibt immer noch viele Punks, aber das Politische ist und bleibt auf jeden Fall wichtig. Das ist der eine Teil der Ausstellung, den wir hier oben haben, in dem Raum mit dem Tresen.

Und dann haben wir noch unten einen anderen Raum. Und da geht es dann um die Zeit der Münze 13 im Nationalsozialismus, weil das gehört auch zu diesem Gebäude dazu. Es hat eine sehr bewegte Geschichte. Ich habe vorhin schon gesagt, das war mal ein Stipendiaten-Wohnheim. Es war allerdings auch eine Gestapo-Dienststelle. Also diese Stiftung wurde enteignet und hier war dann die Polizei drin und mit der Polizei zusammen auch die Gestapo. Das heißt hier von der Münze 13 aus, das ja heute ein antifaschistisches Wohnprojekt ist, wurden damals Deportationen organisiert, da konnten Leute hinkommen, um andere zu denunzieren. Wir sehen noch, welche Zimmer mal Zellen waren. An diesem Gebäude kann man schon sehr viel Geschichte nachvollziehen und es ist für uns auch was Besonderes, dass wir jetzt heute einen Ort der Solidarität geschaffen haben in einem Gebäude mit so einer Geschichte.

Hier im zweiten Stock sind jetzt verschiedene Privatzimmer, wenn wir erst mal hochkommen. Es ist so, dass wir auf jedem Stockwerk so zwischen fünf und zehn Privatzimmer haben und dann immer noch eine Küche und Bad. Es gibt aber keine Türe zwischen den Stockwerken. Also es sind quasi WGs, aber vom Gefühl her ist es ein Haus. Es ist eher so: Ich weiß, wo meine Zahnbürste steht, die ist halt auf dem Stockwerk, in dem ich schlafe. Und ansonsten bewegen wir uns da eigentlich die ganze Zeit hin und her.

Der erste Gemeinschaftsraum, an dem wir hier vorbeikommen, ist das Badezimmer. Es ist ein sehr schönes Badezimmer, würde ich sagen. Es ist mit so ganz kleinen roten und weißen Fliesen und für mich sieht man auch so ein bisschen, was das Wohnprojekt ausmacht: Also ganz viel selber machen. Niemand würde den professionellen Bad so fliesen, das wäre ein absurder Aufwand, mit diesen geschwungenen Stufen, auf denen da oben die Badewanne sitzt. Da merkt man schon, dass die Leute, die hier wohnen, die haben eine besondere Beziehung zum Haus und zu dieser Zeit, die sie hier verbringen. Viele gestalten einfach gerne mit.

Dann gehen wir den langen Flur weiter. Man sieht es auch an den Böden, das ist alles schon Fischgrätenparkett. Und hier ist die Küche vom zweiten Stock. Hier wohnen sechs Personen. In der Küche hier haben wir dieses eine Regal, in dem ganz viele große weiße Eimer stehen im Moment. Wir haben einige Leute im Haus, die eine Food-Coop haben. Also wir bestellen dann immer beim Großhandel große Mengen an Reis, Linsen, Olivenöl, was auch immer an Grundnahrungsmitteln und teilen uns das. Und die werden hier im zweiten Stock gelagert. Und genau das zeigt auch, was für eine Funktion die Küchen haben. Also zweiter Stock: Einerseits ist es eine sehr große Küche, hier machen wir manchmal Plenum, wenn wir nicht im Blauen Salon rein können, weil da vielleicht schon eine Band gerade Soundcheck macht. Und eben auch hier viel Lagerplatz. Und aus dem Fenster raus kann man auf die Dachterrasse krabbeln.

 

Matthieu Cuisnier: Wie seid ihr denn persönlich zu eurem jeweiligen Hausprojekt gekommen?

 

Marie: Bei mir war es ein ziemlicher Zufall. Ich war im Auslandssemester und wollte noch umziehen runter vom Berg, wo ich davor gewohnt habe, in einem kleinen, auch nicht so günstigen Zimmer. Und dann habe ich die Anzeige gesehen 20 Quadratmeter, 260 € warm, direkt in der Innenstadt. Und das fand ich schon sehr überzeugend. Mir war ehrlich gesagt gar nicht klar, dass ich in so einem Wohnprojekt landen würde und was es genau bedeutet.

 

Julia: Ich habe nach meinem Referendariat und Leben in einer WG in Heidelberg eine Stelle in Herrenberg in einer beruflichen Schule bekommen und habe dann gedacht: Ach, ich versuch's mal, alleine zu wohnen mit meinem damals Sohn. Dann haben wir über ein Jahr alleine gewohnt bei Herrenberg in einer 2-Zimmer-Wohnung. Da fiel mir schnell die Decke auf den Kopf und ich habe gemerkt: Nein, ich will unbedingt gemeinschaftlich wohnen. Und dann sind wir nach Tübingen in ein Wohnprojekt gezogen. Und da habe ich gleich gemerkt, dass das mir sehr viel mehr entspricht. Einfach dieses gemeinsam wohnen, Dinge teilen, Synergieeffekte nutzen, solidarisch miteinander sein.

 

Marie: Man lernt auch die Stadt noch mal ganz anders kennen. Also ich dachte damals eigentlich, das war ja so am Ende vom Bachelor: Ja, ich wohne jetzt hier noch ein Jahr und dann bin ich auch schon weg. Das ist jetzt auch schon so sieben, acht Jahre her. Und ich muss sagen, ich habe Tübingen noch mal ganz anders kennengelernt. Auch die Möglichkeiten, die es zur Mitgestaltung gibt, das ist Wahnsinn, also auch die ganze Subkultur. Ich bin da wirklich noch mal so richtig eingetaucht und das ist auch ein Grund für mich, warum ich gerne hier lebe. Wie die Wohnprojekte irgendwie die Stadt prägen und was ich ja auch alles selber machen kann.

 

Matthieu Cuisnier: Könnt ihr vielleicht kurz erklären, wie eure jeweiligen Hausprojekte entstanden sind, also aus welchen Bedürfnissen?

 

Marie: Die Münze 13 ist aus einer Hausbesetzung entstanden, ganz klassisch, weil das Mietshäuser Syndikat ist ja auch eben aus dieser Hausbesetzungsbewegung entstanden. Und ja, wir waren ein bisschen spät dran, ein Hausprojekt zu werden. Also besetzt wurde die Münze schon 1977. Das war, nachdem die Polizei umgezogen ist und das Gebäude leer stand. Und dann haben verschiedene politische Initiativen dieses Haus sich angeeignet. Es ist dann nie wieder freigegeben worden. Man hat dann Möglichkeiten zur Legalisierung gefunden, in dem das Land und das Studierendenwerk das übernommen haben. So ist es eigentlich entstanden. Ich würde sagen, die Münze ist von Anfang an als ein politischer Ort gedacht worden aber auch als ein Zentrum, also ein Treffpunkt. Und es war auch wichtig, schon von Anfang an, dass viele verschiedene Leute hier wohnen. Also es waren nie nur die Studis, es war eigentlich schon immer eine gemischte Bewohner*innenschaft.

 

Matthieu Cuisnier: Und wie ist es bei der Hegel 7?

 

Julia: Das ist eine gute Frage, meines Wissens auch aus eine Hausbesetzung. Ehrlich gesagt kann ich das jetzt gar nicht genau sagen. Die Hegel 7 gibt es auf jeden Fall seit 2008 und ist eine sehr gewachsene Struktur mittlerweile, sehr etabliert. Allerdings sind wir auch gerade im Anbau-Prozess, also bei uns wird gebaut vor der Haustür. Wir haben nämlich auch eine Kita, die ist unsere größte Mieterin, die Casa Kitana. Die hat 40 Kinder und die haben zu wenig Fläche, wo sie toben und spielen können. Und deswegen wird gerade da kräftig gebaut. Und auch da natürlich brauchen wir mehr Gelder, mehr Direktkredite etc. um das finanzieren zu können.

 

Matthieu Cuisnier: Dann können wir Richtung Mietshäuser Syndikat an sich kommen, wenn wir schon über Direktkredite sprechen. Das Mietshäuser Syndikat, wenn ich richtig zusammenfassen kann, sieht im Grunde so aus für Leute, die in den Häusern wohnen, dass sie Miete zahlen aber eigentlich so gut wie ihre eigenen Vermieterinnen sind. Und, dass das auch geht für Leute, die geringes Einkommen haben und auch ohne großes Vermögen. Könnt ihr einfach erklären, wie geht das denn überhaupt?

 

Marie: Fürs Mietshäuser Syndikat ist ganz wichtig, dass wir Häuser kaufen, ohne Eigenkapital zu haben und auch ohne dass sie im Privatbesitz von einzelnen Personen landen. Das heißt, die Häuser, die ins Mietshäuser Syndikat gehen, die sollen für immer dem Immobilienmarkt entzogen sein, weil das ist es, worauf das Mietshäuser Syndikat ganz stark fußt. Neben dieser Idee der Solidarität ist auch die Idee: Wohnen als Ware, das ist nicht das, was wir wollen. Wie das funktioniert, ist ein relativ komplexes Konstrukt. Jedes Haus gehört einer GmbH. GmbH, da zucken jetzt wahrscheinlich schon die Ersten, weil das klingt nach einer sehr urkapitalistischen Eigentumsform. Was ist eigentlich das Revolutionäre daran? Das funktioniert so: Diese GmbH hat zwei Anteilsnehmer*innen. Der eine ist der Hausverein und der andere ist die Mietshäuser Syndikat GmbH. Dieser Hausverein besteht einfach nur aus den Leuten die im Haus wohnen und die führen im Alltag die ganzen Geschäfte, das heißt sie sind wirklich ihre eigenen Vermieter. Und dieser andere Teil, der dem Mietshäuser Syndikat gehört, der dient eigentlich nur dazu, ein Vetorecht zu haben. Wenn jetzt die Bewohner*innen sagen würden: Nein, wir wollen nicht mehr, das ist uns zu viel Arbeit, wir verkaufen jetzt meistbietend. Das geht nicht, das wird ausgeschlossen dadurch, dass das Syndikat diesen zweiten Anteil hält. Das andere, was auch noch wichtig ist durch den Syndikats-Anteil: Das Syndikat hat mittlerweile einen recht guten Namen. Es sind viele Wohnprojekte.

 

Julia: Also an die 200 sind es mittlerweile in Deutschland.

 

Marie: Man kennt es, man schätzt es und dann ist so eine Verlässlichkeit da. Und wenn wir jetzt ein neues Wohnprojekt gründen und sagen: Ah, da ist das Mietshäuser Syndikat mit involviert, dann hat das einen guten Namen. Und es hilft uns auch sehr bei der Finanzierung, weil wir finanzieren das, indem wir zunächst mal Direktkredite einsammeln. Also rechtlich korrekt heißen sie Nachrangdarlehen. Und das bedeutet, dass wir in unserem Umfeld, bei Freundinnen, bei Familie, in der Stadtgesellschaft Leute fragen, ob sie uns ein bisschen Geld leihen wollen. Das geht ab 500 €. Es wird verzinst, aber nicht so wahnsinnig hoch. In unserem Fall geht es bis 1,5 %. Sie leihen es uns dann meistens unbefristet mit einer Kündigungsfrist. Dieses Geld gilt gegenüber der Bank als Eigenkapital, weil es ja Nachrangdarlehen ist. Das heißt, im Fall von der Pleite müssen wir erst den Bankkredit bedienen und dann die Direktkredite auszahlen. Wir gehen nicht pleite ja, es gibt ein Projekt, da ist es passiert. Aber in aller Regel lässt sich das verhindern, weil es natürlich auch einen ganz anderen Sinn von Verantwortung für das Projekt gibt. Wenn ich alle meine Freunde und meine Familie und auch selbst Geld da reingesteckt habe, dann hat man schon ein sehr großes Verantwortungsgefühl, dass das nicht passieren darf. Aber so funktioniert es rein rechtlich. Mit diesen Krediten in der Summe gehen wir dann zur Bank und sie gibt uns dann noch einen Kredit für das restliche Geld, was wir benötigen. Und dann kriegen wir in der Regel auch noch Fördergelder. Also es gibt verschiedene staatliche Förderprogramme für energieeffizientes Wohnen, für günstigen Wohnraum, Denkmalschutzförderungen und so weiter. Aus diesen drei Quellen speist sich dann das Kapital, mit dem wir dann dieses Haus kaufen können. Und ganz richtig, wir zahlen alle immer weiter Miete. Das heißt: Zunächst bezahlen wir mit unseren Mieten das Haus ab, und wenn das Haus abbezahlt wirdalso alle Kredite getilgt sind dann wird trotzdem weiter Miete gezahlt, dann steigt der Soli. Das ist auch ein ganz wichtiger Punkt für die Finanzierung im MHS [Mietshäuser Syndikat]. Alle Projekte zahlen Solidarbeitrag pro Quadratmeter für die Gesamtstruktur. Der ist am Anfang sehr niedrig. Und je größer der finanzielle Spielraum wird, desto höher steigt der Soli.

Es ist auch total krass zu sehen, was es für Spielräume schafft: Einfach, dass niemand Gewinne erzielt mit diesen Häusern. Viele sagen: So viel ist es ja nicht und die armen Vermieter. Aber wir sehen zum Beispiel in Tübingen, dass ein Projekt, das 4-Häuser-Projekte jetzt ein fünftes Haus bauen konnte. Jetzt, in diesen Zeiten, wo Bauen so teuer geworden ist, wo Kredite teuer sind, geht es trotzdem noch, weil sie einfach mit ihren vier Häusern, obwohl sie sehr günstigen Mieten haben – ich glaube, 7 € auf den Quadratmeter, konnten sie trotzdem solche Rücklagen bilden, dass sie noch Neubau realisiert haben, wo wieder mehr Menschen Zugang haben zum Wohnen. Da gibt es auch Quartiers-Funktionen, die der Neubau erfüllen soll. Auch ihr, dass ihr für eure Kita anbaut. Das geht alles nur, weil niemand anderes da Gewinne abschöpft.

 

Matthieu Cuisnier: Was unterscheidet das Mietshäuser Syndikat von einer ganz normalen Baugenossenschaft? Weil ich glaube, das ist prinzipiell ähnlich gedacht, so dass man Miete zahlt und Mitglied der Baugenossenschaft ist.

 

Julia Eigentlich werden wir das ganz oft gefragt. Warum ist es denn jetzt keine Genossenschaft? Warum ist es eine GmbH? Es ist halt so: Über diese GmbH kann man diesen Gesellschaftervertrag eingehen, wo eben dieser eine Teil dem Hausverein gehört, der Stimmrecht hat, und der andere Teil dem Mietshäuser Syndikat. Das ist nicht so einfach bei den Genossenschaften, das so zu splitten. Es gibt einzelne Genossenschaften und es ist schwieriger, die zu verbinden. Der genossenschaftliche Überbau, der hätte sehr viel mehr Eingriffsrechte und das will man eben im Mietshäuser Syndikat explizit nicht, weil explizit die Selbstverwaltung im Vordergrund steht.

 

Marie: Ja, es ist kaum möglich, eine Genossenschaft ehrenamtlich aufzuziehen, wie das beim Mietshäuser Syndikat passiert. Also unsere Struktur mit der GmbH, das klingt vielleicht erst mal ein bisschen komplex, aber eigentlich ist es sehr schlank. Und eine Steuererklärung für eine GmbH zu machen, das können eigentlich die meisten. So war das eigentlich immer noch die einfachste Struktur, auch wenn natürlich vom Gedanken her das Mietshäuser Syndikat sehr stark mit Genossenschaften sympathisiert.

 

Matthieu Cuisnier: Es können vielleicht Leute, die den Podcast hören, angetan sein von dem Konstrukt Mietshäuser Syndikat und von den Hausprojekten, wie ihr sie beschreibt. Wie kann man ein solches Projekt sozusagen nachahmen, woanders aufbauen? Was wären die Bedingungen dafür?

 

Julia: Die Bedingung ist erstmal, dass sich eine Gruppe findet, die das ganze aufziehen möchte. Und normalerweise dauert es eigentlich einige Jahre Vorlauf, dass sich diese Gruppe findet, dass sie erarbeitet: Wie wollen wir zusammenleben, was haben wir für Ideen, was wollen wir eigentlich gemeinsam erreichen? Und dann geht es natürlich darum, auch noch ein Objekt zu finden, dass diese Bedingungen auch ermöglicht.

 

Marie: Manchmal geht es auch andersrum. Da ist erst das Objekt da und dann wird dann geguckt, wie es mit der Gruppe passt. Also zum Beispiel haben wir hier in Tübingen noch ein recht junges Wohnprojekt. Es war schon immer eine WG und unten ist ein Büro für ehrenamtliches Engagement. Dann ist die Eigentümerin gestorben und die Erbengemeinschaft hat überlegt: Was machen wir damit? Sie hat dann der WG quasi angeboten, das zu übernehmen. Dann stand die WG da: Ab jetzt Eigentümer*innen, wie soll das gehen? Und die haben sich dann auch an das Syndikat gewandt, also mit der Idee, den eigenen Wohnraum zu sichern.

Es gibt regionale Koordinationsstellen und sie sind immer ein guter Anlaufpunkt. Da gibt es das Angebot von Erstberatung. Da sitzen wir einmal im Monat abends in einer Hausbar und dann können die Leute kommen, die sich interessieren. Und dann erklären wir erst mal: Was sind eigentlich diese Grundsätze? Was ist wichtig? Für viele ist es direkt schon nicht mehr interessant, wenn sie merken, das kann jetzt nicht ihre Altersvorsorge sein, sondern das ist immer zur Miete. Andere kommen und haben schon eine total schicke Immobilie ins Auge gefasst und man sieht eigentlich auf den ersten Blick: Das ist überhaupt nicht finanzierbar. Von den vielen Initiativen, die erst mal sich an uns wenden, sind es dann gar nicht mehr so viele, die tatsächlich realisiert werden, einfach weil es auch diesen langen Atem braucht. Aber ich kann auf jeden Fall ermutigen, das zu versuchen, wenn man Lust hat, Zeit in sein Wohnen zu investieren, das mitzugestalten und auch wirklich in diese Gemeinschaft investieren möchte, dann ist es, glaube ich, ein schönes Modell.

 

Matthieu Cuisnier: Du hast eben die Frage nach der Immobilie als Altersvorsorge erwähnt. Was sind Sachen, worauf man sich auch einlassen muss oder wovon man sich sonst noch verabschieden muss als Bewohner*in oder Interessent*in in einem Mietshäuser-Projekt?

 

Julia: Dass man selbst all seine eigenen Ideen und Wünsche durchzieht und durchsetzt. Also es ist schon ein Wohnen, das selbstverwaltet ist von der Gruppe, das heißt man spricht sich ab. Es gibt regelmäßige Treffen, Plena in den verschiedenen Häusern. Und da gibt es dann doch auch sehr viel abzusprechen, abzustimmen. Und wichtig ist, denke ich auch an diesen Entscheidungen, dass sie im Konsensprinzip getroffen werden. Also, dass es nicht abgestimmt wird und die Mehrheit entscheidet und dann wird es so gemacht, sondern das ist eben, dass irgendwie alle damit gut sein können mit einer Entscheidung. Und das ist etwas, was natürlich super ist und gleichzeitig aber natürlich viel Zeit und Energie kostet, auch dieses sich einbringen. Also man kann nicht sagen: Oh, mein Wasserhahn ist kaputt, ich rufe den Vermieter an oder die Vermieterin und die richtet das dann. Oder die beauftragt jemand das zu richten, weil ich bin selbst die Vermieterin, der Vermieter und muss mich selber kümmern. Das ist natürlich auch nicht mehr so ganz bequem, wie wenn man irgendwo zur Miete wohnt. Gleichzeitig kann aber auch nicht einfach der Vermieter, die Vermieterin die Miete erhöhen, weil er denkt, das ist jetzt gerade mal angebracht, sondern das entscheidet dann eben das Plenum. Also das entscheiden wir selber, wenn wir merken, okay, wir kommen nicht rum, die Budgetierung, das passt nicht, dann müssen wir eben im Konsens uns dafür entscheiden, die Miete zu erhöhen.

 

Marie: Ich würde eigentlich sagen, es sind viel weniger Sachen, von denen ich mich verabschieden muss, als Sachen, die neu dazukommen. Also ich würde schon sagen, es hat mein Leben stark geprägt, in die Münze einzuziehen. Ich kann mir auf einmal Sachen vorstellen, über die habe ich früher nicht mal nachgedacht.

Klar, da geht es um diese wirtschaftliche Ebene auch. Es gibt zum Beispiel Projekte, die machen so was wie Solidar-Mieten. Das macht das 4-Häuser-Projekt bei uns in Tübingen. Wir wollen das auch machen, sobald wir gekauft sind, wo es dann Leuten einfach möglich ist, so viel Miete zu zahlen, wie sie bequem zahlen können. Und andere Leute können das auch auffangen. Wie man zusammenlebt, was man sich teilt. Wie mit Konflikten umgegangen wird, was ja nicht immer so einfach ist. Was für Lebensmodelle die Leute haben. Es ist auch einfach total interessant, mit so vielen Menschen zu wohnen, die nicht unbedingt immer diese Standard-Biografie haben. Ich würde schon sagen, das ist für mich mit die größte Bereicherung: das Menschliche in den Projekten. Wie kann das Leben eigentlich noch sein?  

 

Matthieu Cuisnier: Braucht es in der jeweiligen Gemeinde, bestimmte Rahmenbedingungen, damit solche Projekte möglich sind oder zumindest einfacher? Oder von anderen politischen Ebenen?

 

Marie: Die Stadt hat vor allem dann viel Einfluss, wenn sie Grundstücke besitzt oder Häuser. Also zum Beispiel dieses fünfte Haus vom 4-Häuser Projekt, was jetzt gebaut wird. Das kann diese Gruppe machen, weil die Stadt da Grund und Boden hatte und es auch in dem Konzeptvergabeverfahren ausgeschrieben hat. Das heißt, dass diese Baugrundstücke nicht an den oder die Meistbietenden gegangen sind, sondern an Leute mit überzeugendem Konzept. Da hat die Stadt richtig viel Macht.

Dann gibt es natürlich Strukturen, die uns helfen. Tübingen hat Wohnraumbeauftragte, da kann man hingehen, sie können einen unterstützen, wenn es darum geht, welche Förderungen wir beantragen zum Beispiel.

In der Vergangenheit hat die Stadt Tübingen selbst schon Kredite an Wohnprojekte vergeben. 

 

Matthieu Cuisnier: Das übergeordnete Thema dieser Podcast Reihe ist ja Wirtschaft mit Zukunft. Inwiefern würdet ihr zusammenfassend sagen, leistet das Syndikat oder leisten eure Hausprojekte einen Beitrag zu einem Wirtschaften mit Zukunft?

 

Julia: Ich sehe es auf jeden Fall als das nachhaltige Wohnen schlechthin. Wenn man sich Dinge teilt und nicht jede Person irgendwie alles selber besitzen muss, dann werden die Ressourcen viel mehr geschont. Wir teilen uns Wohnraum, wir brauchen viel weniger Wohnraum, als wenn sich die Familie ihre Doppelhaushälfte kauft oder mietet und da ganz viel Platz benutzt. Ich denke auf jeden Fall, das ist das Wohnen der Zukunft, oder es wäre zumindest schön! 

 

Marie: Für mich stellt das Mietshäuser Syndikat diese Frage: Womit ist es eigentlich okay, dass wir Gewinne machen und wo wollen wir das eigentlich nicht? Also wo schadet es unserer Gesellschaft? Ich glaube, das ist für mich dieses Kernding: Solidarität und bezahlbaren Wohnraum. Und einfach Häuser dem Markt entziehen, das kann man machen! Es ist viel Arbeit, aber es funktioniert. Für mich ist das auch so eine Art konkrete Utopie oder gelebte Utopie, dass viele Forderungen der Hausbesetzerszene einfach umgesetzt wurden. Die Häuser, denen, die drin wohnen, das klang eigentlich immer so, als wäre das was Unmögliches. Aber das Mietshhäuser Syndikat hat es einfach durch so eine schlaue Struktur möglich gemacht. Und das finde ich so besonders daran.

Aber obwohl das Mietshäuser Syndikat wächst, finde ich wichtig zu betonen: Es ist nicht die Lösung für den Wohnraummangel oder die Wohnraum-Krise, wie es auch oft bezeichnet wird. Hier kann man zwar unabhängig vom finanziellen Kapital wohnen. Aber es ist schon auch so, dass hier wohnen bedeutet, man muss sich irgendwie einbringen können, man braucht dafür die Kapazitäten und ja, die soziale Kompetenz auch. Und natürlich kann jedes Wohnprojekt eine bestimmte Anzahl an Leuten mittragen, die keine Zeit haben, sich einzubringen oder denen es einfach nicht gut genug geht, dass sie da jetzt keinen Kopf dafür haben, sich hineinzudenken. Aber an sich würde ich schon immer noch sagen, dass wir in dem Mietshäuser Syndikat oft recht privilegierte Leute sind. Das Mietshäuser Syndikat ist total großartig, ich schätze es für alles, was wir hier erreichen können. Aber es erlöst uns jetzt nicht von dieser gesellschaftlichen Frage danach, wie wir mehr bezahlbaren Wohnraum schaffen. 

 

Matthieu Cuisnier: Ja, dann vielen Dank, Julia und Marie. Besonders spannend an dem Mietshäuser Syndikat finde ich zum einen, dass es nicht nur um bezahlbaren Wohnraum geht, sondern oft geht es gleichzeitig auch um Räume für tolle soziale, kulturelle oder auch gewerbliche Initiativen, die sonst ebenfalls aus den Innenstädten verdrängt würden. Ich glaube, das ist auch in dem Interview zu Wort gekommen. Sehr beeindruckt bin ich zum anderen von der ausgefeilten finanziellen und organisatorischen Struktur des Mietshäuser Syndikats. Die ermöglicht es im Prinzip so gut wie jeder und jedem auch mit einem kleinen Einkommen und ohne Ersparnisse kollektiv über das Haus zu verfügen, in dem man zudem auch sicher und bezahlbar wohnt, also quasi sowohl Eigentümerin als auch Mieterin zu sein. Und das war die Folge zum Thema nachhaltig soziale Wohnformen am Beispiel Mietshäuser Syndikat, produziert von der Heinrich Böll Stiftung, Baden-Württemberg.

 

Outro: Wenn ihr mehr hören wollt, abonniert Böll.Regional in der Podcast App Eurer Wahl, wie beispielsweise Apple Podcast, Spotify oder Soundcloud.  Für Fragen oder Anregungen schreibt uns einfach an podcast@boell.de.