Alle Jahre wieder stellt sich die Frage: Was hat sich im letzten Jahr in Sachen Lohngerechtigkeit getan? Zu wenig! Aber es geht voran. Wirtschaftsexpertin Henrike von Platen über bestehende Ungleichheiten und wie man sie überwinden kann.
Präsenzkultur, unbezahlte Überstunden und Machogebaren
Bei der gerechten Entlohnung kommt Bewegung in die Sache und Unternehmen sind bereit, sich eingehenden Entgeltanalysen zu unterziehen. Auch die neue Arbeitswelt der Transparenz- und Diversity-Pioniere lässt hoffen. Doch so fortschrittlich manche Unternehmen sind, für sehr viele Beschäftigte sieht der Arbeitsalltag bis heute sehr viel gestriger aus. Präsenzkultur, unbezahlte Überstunden und Machogebaren sind weiter an der Tagesordnung, und das Spektrum der Ungleichbehandlung ist groß: Männliche Studienabsolventen werden im Einstellungsprozess bevorzugt, junge Frauen bei der Beförderung übergangen, Arbeitsverträge am ersten Tag nach der Elternzeit gekündigt. Ja, es gibt Veränderung im Bereich mobiles Arbeiten und Vereinbarkeit, aber vieles ist auch direkt zurück zur alten Norm gewechselt.
Wer Karriere macht, ist meistens männlich. In politischen Ämtern und in den Spitzenpositionen der Wirtschaft finden sich nach wie vor überwiegend weiße, mittelalte Kerle. Frauen hingegen scheinen dort so rar wie umgekehrt Väter auf Elternabenden oder am Kuchenbüffet in der Grundschulaula, wenn die neuen ersten Klassen eingeschult werden.
Dabei sind Frauen keine Minderheit, sondern die Hälfte der Menschheit. Solange jede zweite Person auf diesem Planeten aus Unternehmenssicht als Minderheit eingestuft wird, weil Frauen in vielen Branchen und in den allermeisten Führungsetagen eindeutig in der Minderheit sind, sind wir vermutlich noch sehr weit vom Ziel entfernt. Jede zweite Person auf diesem Planeten erfährt am Arbeitsplatz potenziell strukturelle Diskriminierung – und die weibliche Hälfte der Bevölkerung wird bis heute schlechter bezahlt.
Der Forderung nach Lohngerechtigkeit ist ein alter Hut
Dabei ist die Forderung nach gleicher Bezahlung beileibe nicht neu. 1919 forderten Frauenrechtlerinnen in New York erstmals lautstark »Equal pay for equal work« und kämpften für Chancengleichheit, für gerechte Bezahlung und für die freie Berufswahl. Ein Jahrhundert nach dem Aufstand der New Yorkerinnen und eine industrielle Revolution später hat sich in Sachen Lohngerechtigkeit bestürzend wenig getan: Noch immer erhalten Frauen weniger Geld für die gleiche Arbeit – und zwar überall auf der Welt. In keinem einzigen Land der Erde wurde bislang Lohngerechtigkeit erzielt.
Das Recht auf gleiche Bezahlung ist in Deutschland seit 1951 im Grundgesetz verankert: »Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.« (Art. 3, Abs. 2) Lohngerechtigkeit ist keine Kür, sondern eine Pflicht. 2017 ist das Entgelttransparenzgesetz in Kraft getreten, das einen Auskunftsanspruch für Beschäftigte vorsieht und Entgeltgleichheit in den Unternehmen fördern soll.
Seit 2015 stehen die Gleichstellung von Männern und Frauen im Allgemeinen sowie die Forderung nach gleichem Entgelt für gleiche und gleichwertige Tätigkeiten auf der globalen Agenda der Vereinten Nationen. In Island, Großbritannien, Frankreich sowie in vielen anderen Ländern wurden in den letzten Jahren neue Entgeltgleichheitsgesetze verabschiedet.
Basierend auf dem Erfolg dieser bereits erprobten Regulierungen, wurde im Frühjahr 2023 in Brüssel eine neue EU-Direktive beschlossen, die in ganz Europa für Entgeltgleichheit sorgen soll, indem sie Unternehmen dazu verpflichtet, faire Bezahlung nachzuweisen und sie schärfer sanktioniert, wenn sie Beschäftigte bei der Bezahlung diskriminieren. Hier haben wir unseren Beschleuniger!
Diskriminierungsmerkmal »Frau«
Bislang ist das Recht auf gleiche Bezahlung kein Garant für faire Behandlung am Arbeitsplatz. Erstaunlich gestrige Unternehmenskulturen sind dabei nur ein Aspekt. In der deutschen Gesetzgebung und im deutschen Steuerrecht finden sich Anachronismen, die im Paragrafendunkel bis heute überlebt haben.
Überstundenzulagen werden erst dann gezahlt, wenn die Arbeitsstunden abgeleistet wurden, die einer Vollzeitstelle entsprechen. Tarifbeschäftigte, die in Teilzeit arbeiten und über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus Überstunden leisten, erhalten daher sehr viel seltener Überstundenzuschläge als Personen, die vollzeitbeschäftigt sind. Und obwohl Teilzeitbeschäftigte nach § 4 Abs. 1 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes »nicht ohne sachlichen Grund schlechter behandelt werden dürfen als vergleichbare vollzeitbeschäftigte Arbeitnehmer«, bestätigte das Bundesarbeitsgericht 2021: Der Überstundenzuschlag greift erst dann, wenn die Mehrarbeit der Teilzeitbeschäftigten die Arbeitszeit der Vollzeitbeschäftigten überschreitet. Ebenso wie die Erschwernis- und Schmutzzulagen betrifft die Benachteiligung Frauen in viel größerem Maße als Männer, da sie wesentlich häufiger in Teilzeit beschäftigt sind.
Frauen backen kleinere Brötchen
Auch Berufsausbildungswege und Tarifgehälter benachteiligen häufig Frauen. So dauert die Ausbildung zur Bäckereifachverkäuferin, die überwiegend von Frauen absolviert wird, drei Jahre. Die Anlernzeit für die überwiegend männlichen Bäckereigehilfen hingegen dauert nur drei Monate – 33 Monate weniger. Ihr Gehalt hingegen ist höher als der Verdienst der ausgebildeten Fachverkäuferinnen.
Das Absurdeste aber ist: Frauen können der schlechteren Bezahlung meist nicht einmal dann entkommen, wenn sie besser bezahlte »Männerberufe« ergreifen. Tatsächlich verschlechtern sich oftmals die Gehälter in gut bezahlten Berufen, die überwiegend von Männern ausgeübt werden, sobald vermehrt Frauen diesen Beruf ergreifen. Je mehr Frauen einen Beruf ausüben, desto negativer wirkt sich dies über die Jahre auf die Höhe der Gehälter aus. Umgekehrt steigen die Durchschnittsgehälter von Berufsgruppen, sobald Männer hineindrängen.
Eine solche Entwicklung dauert meist ein paar Jahrzehnte.
Karrierekiller Ehegattensplitting
Auch das deutsche Steuerrecht ist von frappierender Gestrigkeit und enthält den Karrierekiller Ehegattensplitting. Als die Regelung in den 1950er Jahren eingeführt wurde, sollte damit die Alleinverdienendenehe gefördert werden. Zeitgemäß ist das schon lange nicht mehr: Doch dank Ehegattensplitting landen selbst Paare mit den allerbesten Absichten nach der Familiengründung unversehens in den überholten Mustern, die sie eigentlich ablehnen und vermeiden möchten.
Das System bevorzugt die Alleinverdienendenehe und sieht bis heute Erschwerniszuschläge für Zementsäcke vor, nicht aber für Kranke und Alte. Es schätzt »Männerberufe« mehr als »Frauenberufe«, es zementiert die alten Rollenbilder, und es fördert Ungleichheit.
Nachwachsende Dinosaurier
In diesem System gibt es bis heute den Agenturchef, der nichts von Work-Life-Balance wissen will, nächtliche Überstunden heldenhaft findet und der Auffassung ist, dass Auszeichnungen für gute Arbeit Lohn genug seien. Es gibt bis heute britische Fluglinien, die Gender Pay Gaps von bis zu 62 Prozent haben und dies noch immer für ganz natürlich halten. Es gibt sie, die Unternehmen – darunter namhafte Suchmaschinenbetreiber und bekannte Sportartikelhersteller –, die die offiziellen Rankings als beliebteste Arbeitgeber anführen und dennoch systematisch unfair bezahlen und sich lieber bis zur höchsten Instanz verklagen lassen, als aus eigenem Antrieb heraus etwas zu unternehmen.
Sie werden aussterben, die Dinosaurier, keine Frage. Kein Unternehmen der Welt wird es sich in Zukunft noch leisten können, auf die Hälfte der Menschheit zu verzichten. Doch es werden noch lange immer wieder neue Dinosaurier nachwachsen, wenn wir nicht sehr bewusst gegensteuern, gezielt Raum für Neues schaffen – und uns darum kümmern, dass sich endlich die Strukturen ändern.
Was wir alle tun können, um die Sache zu beschleunigen
Wer bei der Bezahlung anfängt, wählt den schnellsten Weg zur Gleichstellung. Wo kein Raum für Klischees, Stereotype und Vorurteile gelassen wird, haben die alten Privilegien keine Chance. Wo ein transparentes, faires Regelwerk gilt, brechen verkrustete Strukturen auf. Und je weiter die Entwicklung voranschreitet, desto mehr Vorbilder finden sich für alle denkbaren Karrierewege, Führungskonstellationen und Familienmodelle.
Je objektiver das System, desto besser wird die individuelle Unterstützung sein, die Beschäftigte auf ihrem Berufsweg erfahren.
Um faire Bezahlung, mehr Frauen in Führung und Chancengleichheit für alle zu gewährleisten, braucht es daher mehr Transparenz und weniger Klischees. Es braucht Entgeltanalysen und Gleichstellungsmaßnahmen sowie regelmäßige Überprüfungen. Es braucht Schulungen für Führungskräfte und Personalabteilungen, die – bei regelmäßiger Wiederholung und intensiver Auseinandersetzung – unterstützen können, möglichst vorurteilsfrei zu führen.
Was ist gut für den Menschen? Fair!
Wenn wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass alle Menschen auf der Welt wirtschaftlich unabhängig sein können, profitieren wir am Ende alle – Frauen, Männer und Minderheiten, Familien und Unternehmen, die ganze Gesellschaft, sogar die Weltwirtschaft und der Planet. Die alten Hierarchien und der stereotype Mainstream, die traditionellen Rollenverteilungen, die viel zu lange gültige Trennung von Privatem und Beruflichem in unbezahlte weibliche und bezahlte männliche Sphären, das alles hat in der neuen Wirtschaftswelt nichts mehr zu suchen.
Digitalisierung und Globalisierung, Flexibilisierung und ganz neue technische Möglichkeiten sind auf dem Weg zur Chancengleichheit die besten Komplizinnen – all diese Entwicklungen sorgen dafür, dass eine Fülle an individuellen Lösungen für die Arbeitswelt zur Verfügung steht, die ausgeschöpft werden können.
Kommunikation und Kooperation prägen die Zusammenarbeit der Zukunft. Vernetztes Arbeiten, demokratische Prozesse und Mitbestimmung wirken sich auch nach außen, auf die Produkte und Dienstleistungen, enorm positiv aus. Und die neuen digitalen Möglichkeiten und das flexible Arbeiten erleichtern die Vereinbarkeit von Beruflichem und Privatem für Menschen mit oder ohne Kinder. Die Frage lautet nicht länger: Was braucht das Unternehmen oder die Organisation? In der neuen Arbeitswelt lautet die Frage: Was ist gut für den Menschen, der dem Unternehmen Kompetenzen, Kraft und Ideen zur Verfügung stellt und einen Teil seiner Zeit? Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um einen Mann oder um eine Frau handelt, oder welchem Geschlecht sich die Person zugehörig fühlt.
Vor allem aber: Wer über Geld spricht, der sorgt auch für Chancengleichheit. Ein Entgeltsystem, das erst gar keinen Raum lässt für Diskriminierung und die Wirkmacht der Klischees und der alten Rollenbilder, schafft eine stabile Basis für Veränderungen. Eine Bewertungsmatrix und ein klar strukturiertes Entgeltsystem helfen jedem Unternehmen, die Beschäftigten diskriminierungsfrei zu bezahlen.
Das Entscheidende ist, dass es fair zugeht. So fängt das Gute an.