Die von der Bundesregierung eingesetzte Expert*innen-Kommission spricht sich dafür aus, den § 218 zu streichen. Was folgt daraus?
Von Amina Nolte
Amina Nolte: Gerade passieren historische Dinge, oder? Eine von der Bundesregierung eingesetzte Kommission empfiehlt der Regierung, den Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuches zu regeln. Nur ein Jahr zuvor hat die ELSA-Studie zum ersten Mal belastbare Daten zur Versorgungssituation von ungewollt Schwangeren in Deutschland erhoben.
Alicia Baier: Ja, es sind turbulente Zeiten! Dank der ELSA-Studie haben wir jetzt eine exakte Problembeschreibung und den Nachweis, dass ein Großteil der Betroffenen und auch der Ärzt*innen, die Abbrüche durchführen, stigmatisiert werden. Das ist eine direkte Folge von § 218. Spannend ist auch, dass 75 Prozent der Ärzt*innen, unabhängig davon, ob sie selbst Abbrüche durchführen oder nicht, eine Regelung außerhalb des Strafgesetzbuches befürworten. 64 Prozent möchten sogar, dass öffentliche Kliniken verpflichtet werden, Abbrüche durchzuführen. Gleichzeitig zeigt die ELSA-Studie, dass die Versorgungssituation in einigen Regionen Deutschlands schlecht ist. Und nun hat die von der Bundesregierung eingesetzte Kommission im April 2024 eindeutig eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs empfohlen. Damit erteilt sie der Regierung einen klaren Handlungsauftrag.
75 Prozent der Ärzt*innen befürworten eine Regelung außerhalb des Strafgesetzbuches.
Taleo Stüwe: Ursprünglich war die Studie ja ein Projekt von Jens Spahn, dem ehemaligen Gesundheitsminister, das die angebliche grundsätzliche psychische Belastung von Abbrüchen unter Beweis stellen wollte. Stattdessen zeigt die ELSA-Studie, dass es das Post-Abortion-Syndrom nicht gibt. Die 'Entwicklung des psychischen Wohlbefindens bei ungewollten Schwangerschaften' ist unabhängig davon, ob sich Schwangere für oder gegen einen Abbruch entscheiden. Das Wohlbefinden drei Monate nach Ende der Schwangerschaft ist etwas schlechter als vor deren Eintritt, geht aber im weiteren Verlauf auf das Niveau zurück, das die Person vor der ungewollten Schwangerschaft angegeben hat. Das finde ich eine super wichtige Erkenntnis! Sie gilt für alle Personengruppen, die beforscht wurden, also auch für Menschen, die psychisch oder finanziell stärker belastet waren. Wir brauchen die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs dringend.
Was hat die ELSA-Studie offengelassen?
Alicia Baier: Es wurde zwar nachgefragt, warum keine Abbrüche durchgeführt werden. Allerdings bleiben hier einige Fragen offen. So hat ein Drittel der Ärzt*innen angegeben, dass es keine angemessenen Räumlichkeiten gebe. Unseres Wissens nach, lassen sich medikamentöse Abbrüche in einer ganz normalen gynäkologischen Praxis mit den ganz normalen Räumlichkeiten durchführen. Es scheinen viele Fehlinformationen zu kursieren. Hier wäre eine tiefergehende Analyse der Gründe spannend gewesen.
Taleo Stüwe: Insgesamt ist mein Eindruck, dass die ELSA-Studie bestätigt, was ich durch Erfahrungsberichte von ungewollt Schwangeren, von Ärzt*innen, Berater*innen und auch von politischen Akteur*innen bereits gesehen habe. Ich hätte mir ein bisschen mehr Tiefe gewünscht bei der Untersuchung von Personengruppen, die in unserer Gesellschaft marginalisiert werden. Zu kritisieren ist etwa die gleichzeitige Nennung von Partnerschaftsgewalt und Verletzlichkeit aufgrund einer Migrationsgeschichte: 'Vulnerabilität durch Partnergewalt und/oder Migrationsgeschichte', lautet die Kapitelüberschrift. Damit wird suggeriert, dass Menschen mit Migrationsgeschichte häufiger Gewalt in Beziehungen erfahren als andere. Das ist falsch. Irritiert hat mich auch, dass keine inklusive Sprache gewählt wurde, sondern strikt von Schwangeren als Frauen gesprochen wird. Das führt zu Marginalisierungen von inter* und trans* Personen. Es wäre einfach toll gewesen Zahlen in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche für queere Menschen zu bekommen. Die gibt es bisher nicht.
Am 15.4.2024 hat die Kommission für reproduktive Selbstbestimmung und Fortpflanzungsmedizin die deutliche Empfehlung ausgesprochen, Schwangerschaftsabbrüche bis zur zwölften Woche und ggf. auch darüber hinaus außerhalb des Strafgesetzbuches zu regeln. Was haltet ihr davon?
Alicia Baier: Wir brauchen unbedingt eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs mindestens in den ersten zwölf Wochen. Doctors for Choice begrüßt daher die klare Aufforderung zur gesetzlichen Neuregelung. Wir wünschen uns, dass der Gesetzgeber dort, wo die Kommission einen Gestaltungsspielraum lässt, also in der Festlegung der genauen Frist oder auch in der Frage der Pflichtberatung, diese Handlungsspielräume ausschöpft. Denn viele internationale medizinische Leitlinien und auch die WHO empfehlen klar die Abschaffung von Hürden wie Pflichtberatung und Fristen, da diese Abbrüche weder verhindern noch früher stattfinden lassen, sondern im Gegenteil den Zugang zu Abbrüchen erschweren.
Taleo Stüwe: Dank des Berichts der Kommission haben wir nun eine verbriefte Expertise, die besagt, dass der Schwangerschaftsabbruch außerhalb des Strafgesetzbuchs geregelt werden kann und sollte, vor allem in den ersten zwölf Wochen. Zu hoffen wäre, dass der Gesetzgeber auch Schwangerschaftsabbrüche nach zwölf Wochen nicht kriminalisiert. Auch in Bezug auf die Pflichtberatung, hoffe ich, dass der Ermessensspielraum ausgeschöpft wird. ELSA hat gezeigt, dass Fachkräfte aus der sogenannten Schwangerschaftskonfliktberatung nach der Streichung von § 218 am zweithäufigsten die Abschaffung der Pflichtberatung zur Verbesserung der rechtlichen Regelungen fordern. Beratung muss auf Freiwilligkeit basieren. Dementsprechend wäre es die klare Aufgabe des Gesetzgebers, die Beratungspflicht im Vorfeld von Schwangerschaftsabbrüchen zu streichen und gleichzeitig sicherzustellen, dass es ein bedarfsorientiertes, sensibles Beratungsangebot für ungewollt schwangere Menschen gibt. Leider hat die Kommission sich nicht klar gegen die Pflichtberatung positioniert. Ich halte an der Maximalforderung fest, dass Schwangerschaftsabbrüche grundsätzlich legal zugänglich sein sollten, ohne Fristen für ungewollt schwangere Menschen. Mit der Forderung von legalen Schwangerschaftsabbrüchen muss die Forderung nach guter Familien- und Sozialpolitik einhergehen. Es ist eben auch die Verantwortung des Gesetzgebers, gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen sich werdende Eltern für die Geburt von einem Kind mit Behinderung entscheiden können.
Wie erlebt ihr gerade das politische und gesellschaftliche Klima in Bezug auf die Empfehlungen?
Alicia Baier: Die Reaktion der Regierungsparteien ist ernüchternd. Sie haben, die Kommission eingesetzt und zeigen sich nun besorgt, dass das Thema § 218 zu Streit oder gesellschaftlicher Spaltung führen könnte. Beides ist längst da und außerdem wesentlicher Bestandteil der rechten bis rechtsextremen Agenda. Aber die Mehrheit der Bevölkerung ist für eine Legalisierung. Daher würde eine Neuregelung eher zum gesellschaftlichen Frieden beitragen.
Taleo Stüwe: Auch mich irritiert die zurückhaltende Reaktion von Lisa Paus, Karl Lauterbach und Marco Buschmann sehr, die in der Ampelregierung für dieses Thema zuständig sind. Bei der Pressekonferenz zu den Kommissionsempfehlungen verwiesen sie darauf, dass erst noch die gesellschaftliche Debatte zu diesem hochkomplexen Thema geführt werden müsse. Nee, das Thema wird seit Jahrzehnten in der Gesellschaft diskutiert. Jetzt endlich gibt es einen klaren Auftrag, der lautet: Entkriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen, § 218 streichen! Ich checke nicht so richtig, wie parteipolitisch mit dem Bericht und den Studienergebnissen der ELSA-Studie umgegangen wird.
Blicken wir nach vorne: Es ist April 2025: Was wurde in Bezug auf Schwangerschaftsabbrüche politisch und gesellschaftlich erreicht?
Taleo Stüwe: Wenn ich träumen darf: § 218 ist gestrichen und es gibt gute Beratungsangebote für gewollt und ungewollt Schwangere. Die Beratung ist sensibel und macht Informationen zugänglich, auch für marginalisierte Personengruppen.
Alicia Baier: Ich sehe die große Gefahr, dass die Entkriminalisierung des Schwangerschaftsabbruchs verschleppt wird. Dabei ist das jetzt eine einmalige Chance: Wir haben eine Regierung ohne CDU/Union. Das kann in der nächsten Legislatur ganz anders aussehen. Im Bestfall liegt April 2025 einen Gesetzentwurf vor und der wird gerade implementiert oder ist schon implementiert. Das wäre der Optimalfall.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.gwi-boell.de