Erinnerungskultur reloaded? Unnütze Frontenbildung im Streit um das Erinnern in Deutschland

Kommentar

Das „Rahmenkonzept Erinnerungskultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) trifft einen wichtigen Punkt: das Förderkonzept für die Erinnerungskultur in Deutschland sollte erweitert werden.

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Es sollte ein Gesprächsangebot sein. Doch kaum war der Entwurf des „Rahmenkonzepts Erinnerungskultur“ der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM), Claudia Roth, Anfang Februar ins Netz gestellt, wurde er heftig attackiert. Schon nach der ersten Aussprache am 06. Juni, zu der die Kulturstaatsministerin eingeladen hatte, gilt er weithin als gescheitert. Der Fehler steckt jedoch nicht in der Sache – sondern eher im Umgang mit dem Entwurf. Sowohl die Idee, das Förderkonzept für die Erinnerungskultur in Deutschland zu erweitern, als auch der Ansatz multidirektionalen Erinnerns sind richtig. Und: Beides ist gerade in diesen Zeiten des rasch anwachsenden Rechtsradikalismus wichtig. 

Warum also wurde das als Entwurf sicher noch zu bearbeitende Papier, das neben dem Gedenken des Nationalsozialismus und der kommunistischen Diktatur drei weitere Pfeiler - Kolonialismus, Einwanderungsgesellschaft und die Kultur der Demokratie - benennt, gleich nach dem Erscheinen im Internet derart scharf torpediert? Anscheinend, so beteuerten selbst einige Gedenkstättenleiter*innen, sind sich alle einig, dass es einer Erweiterung der „Gedenkstättenkonzeption des Bundes“ bedarf. „Unstrittig ist, dass die mittlerweile 16 Jahre alte Konzeption des Bundes dringend einer Aktualisierung und Weiterentwicklung bedarf“, heißt es in der Stellungnahme der Gedenkstättenleiter*innen Ende Mai. Und weiter: „Die Aufnahme Kolonialer Verbrechen als weitere Säule der bundesrepublikanischen Erinnerungskultur begrüßen wir ausdrücklich.“ 

Gestritten wurde dennoch heftig – und mit so unschönen Begriffen wie „Geschichts-Revisionismus“ und „Relativierung“. Liegt es letztlich an den Fördermitteln, um die die Gedenkstätten ringen? An erster Stelle wird in den Kernpunkten der Stellungnahme aufgeführt: „Durch die mögliche Aufnahme weiterer historischer oder erinnerungskultureller Themenbereiche in die Gedenkstättenkonzeption darf es keine inhaltlichen oder förderpolitischen Schwerpunktverschiebungen zulasten der NS-Gedenkstätten und Erinnerungsorte geben.“ Ging es hier auch um Deutungshoheiten? 

Sicher wäre in Fragen der Fördermittel hinzuzufügen und nicht zu kürzen beim Gedenken des Holocaust, dem Zivilisationsbruch in seiner Präzedenzlosigkeit als Menschheitsverbrechen. „Auskömmlich finanzieren“ hieß es daher schon in der Koalitionsvereinbarung, die den Anstoß gab zur Überarbeitung der Konzeption, deren letzte Fassung von 2008 stammt. 

Die Gedenkstätten leisten bereits jetzt mit wenig Geld immer mehr: Sie erhalten die Erinnerungsorte, unterhalten Archive und Bibliotheken, forschen, bereiten Ausstellungen vor, leisten Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit. Sie betreuen Zeitzeug*innen und ihre Angehörigen und einiges mehr. Aber hat allein diese Arbeit staatliche Förderung verdient und alle anderen sollen leer ausgehen?
Die Kritik fächert sich auf: Die einen beharren darauf, „zwischen Formen der Gewalt in gesamtstaatlicher Verantwortung und Formen des Terrors von Gruppen oder Individuen“ zu unterscheiden. Aber ist das zwangsläufig so zu bewahren? Wie erklärt man den Familien der Opfer von Hanau dann eine solche Unterscheidung?

Gleichsam beharren andere darauf, dass die Gedenkstättenkonzeption mit den realen Geschehensorten in Deutschland verbunden sein müsse. Deutsche Kolonialverbrechen jedoch haben kaum solche Orte in Deutschland. Soll Erinnerungsarbeit diesbezüglich dann nicht gefördert werden? Selbst die Stiftung Preußischer Kulturbesitz (SPK) forderte unlängst in der „Züricher Erklärung 2024“ mehr Fördermittel für eine Aufarbeitung des Kolonialismus: „Ein drängendes Problem ist aktuell die Finanzierung kooperativer Projekte wie auch von Restitutionsprojekten (…). Wir fordern die Zuständigen in der Politik auf, die notwendigen Fördergelder transparent zur Verfügung zu stellen (…)“.

Das eine fördern, ohne das andere zu lassen, scheint hier die richtige Formel. Ob das durch ein einziges umfassendes Rahmenkonzept geleistet werden kann, wäre eine interessante Debatte, für die sich Claudia Roth eingesetzt hat. Ein aktualisiertes Rahmenkonzept ist notwendig, um die Ziele für eine aktualisierte Erinnerungskultur festzulegen und diese mit den Mitteln und Förderungen zu versehen, die sie braucht. 

Was also sollte wie erweitert werden? Zunächst ist Erinnerungskultur tatsächlich etwas, das von unten wächst. Auch das Gedenken der NS-Verbrechen und der Erhalt von Gedenkstätten wurde in den Nachkriegsjahrzehnten mühevoll erstritten. Seit Jahren bringen zivilgesellschaftliche Gruppen, Forscher*innen, Museen und Angehörige von Opfern rassistischer Gewalt in Deutschland konkrete Vorschläge ein rund um das Erinnern an die Verbrechen der Kolonialzeit und an die rassistisch motivierten Verbrechen der jüngeren Zeit. 

In der Debatte im BKM spielte auch folgendes Argument eine Rolle: Erinnerungskultur, wie sie von den Gedenkstätten geleistet wird, beruht auf Forschung und wird damit nicht durch staatliche Vorgaben gelenkt. Das ist ein wichtiges Argument, denn Forschung erweitert den Horizont des Gedenkens und vervollständigt und verändert unser Bild von den Geschehnissen und den dafür Verantwortlichen. Das muss stetig aktualisiert werden. Und es gilt auch für das multidirektionale Erinnern. 

Ob man es wahrhaben will oder nicht: Erinnerungskultur in Deutschland hat sich tatsächlich verändert. Menschen sind zu uns gekommen mit ihren eigenen Leiderfahrungen und eigener Erinnerung. Die Überlebenden aus Darfur im Sudan oder Bosnier*innen, die dem Krieg entronnen sind und Srebrenica gedenken, leben in Deutschland. Da reicht es nicht, als weiße Mehrheitsgesellschaft den Zeigefinger zu heben und auf das spezifische Leid aus der NS-Vergangenheit oder durch die SED-Herrschaft zu verweisen. Es bedarf des Zuhörens und der Empathie gegenüber all diesen „mitgebrachten“ und marginalisierten (oder vergessenen, oder weniger sichtbaren) Erinnerungen. Und eines intensiven Gesprächs über unsere Demokratie heute, um dann die Erinnerung an den Holocaust gemeinsam zu tragen und unsere Demokratie gemeinsam zu verteidigen.

Anderswo auf der Welt gibt es diese Querverbindungen längst, etwa beim Holocaust Memorial Museum in Washington oder in Südafrika, wo das Gedenken des Holocaust mit modernen Krisen in Beziehung gesetzt wird. Mirjam Zadoff, die Direktorin des NS Dokumentationszentrum München hat darauf verwiesen und selbst in diese Richtung gewirkt. Das wirkt immer noch etwas befremdlich in Deutschland, dem selbsterklärten „Erinnerungs-Weltmeister“., mit doch so vielen Leerstellen im kollektiven Narrativ und den lauter werdenden Nazi-Parolen auf Sylt und anderswo. Zu Recht verweisen die Gedenkstätten auf die eigenen Bemühungen in diese Richtung. Doch Interessens- und Betroffenengruppen fordern, dass ihre eigenen Anliegen stärker anerkannt und gefördert werden.

Beim Runden Tisch im BKM am 06. Juni ging die Geschichte anders aus. Dort wurde nun erst einmal beschlossen, das Gedenkstättenkonzept basierend auf den zwei ursprünglichen Pfeilern zu reformieren – und die drei anderen unabhängig zu beraten. Eine große Chance für die wichtige Debatte rund um Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft haben die Kritiker*innen vorerst verspielt. Nun gilt es, die Grundideen multiperspektivischen Erinnerns weiter stark zu machen. Denn Erinnerungskultur wächst von unten!