In den drei Monaten nach ihrem Amtsantritt hat Mexikos neue Präsidentin, Claudia Sheinbaum, mit der Umsetzung ihres ambitionierten 100-Punkte-Plans begonnen. Nach 100 Tagen stellt sich die Frage, welche politischen Schwerpunkte sie setzen will und kann.
Claudia Sheinbaum, die neue Präsidentin Mexikos, genießt nach 100 Tagen im Amt 80 Prozent Zustimmung. In den ersten drei Monaten nach ihrem Amtsantritt am 1. Oktober 2024 hat sie die Umsetzung ihres ambitionierten 100-Punkte-Plans in Angriff genommen. Sie möchte die Politik ihres Vorgängers und politischen Ziehvaters, Andrés Manuel López Obrador (AMLO), fortsetzen. Insbesondere sozialpolitische Unterstützungsmaßnahmen für sozial schwache Bevölkerungsgruppen, Arbeiter*innen, Rentner*innen und alleinerziehende Mütter bleiben bestehen und der Zugang zu (Aus)bildungsprogrammen für Jugendliche wird erweitert. Die Infrastruktur und der soziale Wohnungsbau im Land sollen ausgebaut, Kriminalität und das organisierte Verbrechen bekämpft und die Justizreform sowie Investitionen in erneuerbare Energien und den Umweltschutz sollen umgesetzt werden.
Der Weg für Verfassungsreformen ist frei
Sheinbaum regiert mit einem Regierungsbündnis, das neben ihrer Partei Morena die Parteien Partido del Trabajo (PT) und Partido Verde Ecologista de México (PVEM) umfasst und de facto über eine Zweidrittelmehrheit im Kongress verfügt, die Verfassungsänderungen ermöglicht. In der Abgeordnetenkammer fehlt dem Bündnis formell eine Stimme für die qualifizierte Mehrheit. Es gelang der Präsidentin jedoch diese fehlende Stimme bisher bei Abstimmungen über Verfassungsreformen vom Oppositionslager zu gewinnen, ganz zum Ärgernis der Oppositionsparteien PAN, PRI, PRD und Movimiento Ciudadano.
Sheinbaum konnte deshalb in den ersten drei Monaten mehrere der im Wahlkampf angekündigten, und noch unter ihrem Vorgänger initiierten, Verfassungsänderungen durchsetzen. Dazu zählt die Abschaffung sogenannter autonomer staatlicher Kontrollbehörden, wie etwa des Nationalen Instituts für Transparenz und Zugang zu Information, der staatlichen Evaluationsbehörde zur Armutsbekämpfung oder der öffentlichen Wettbewerbsbehörde. Deren Funktionen, so Sheinbaum, könnten effizienter und kostengünstiger in bestehende Ministerien integriert werden. Für sie verkörpern diese Kontrollbehörden das Vermächtnis eines ihrer Ansicht nach neoliberalen und korrupten Wirtschaftsmodells der Vorgängerregierungen.
Weitere Reformen umfassen die Wiederverstaatlichung des öffentlichen Erdölunternehmens PEMEX und des staatlichen Stromerzeugers CFE als nicht primär profitorientierte Unternehmen. Nach der Energiereform unter AMLOs Vorgänger, Präsident Enrique Peña Nieto (2012-2018), konnte PEMEX Teile der Produktion an private Investoren auslagern. Auch eine verbindliche Mindestlohnerhöhung, die mindestens der Jahresinflation entspricht, wurde in die Verfassung aufgenommen.
Schwächt die Justizreform die Judikative?
Der weitreichenden Justizreform nach sollen alle Richter*innenämter der Bundesjustiz mittels Wahlen 2025 und 2027 neu besetzt werden. Im November 2024 hatte der Oberste Gerichtshof (Suprema Corte de Justicia de la Nación, SCJN) eine Verfassungsklage der Opposition gegen die Justizreform als unzulässig abgewiesen. Damit scheint der Weg im Sinne der Präsidentin frei. Dies gilt für die Wahlen der Richter*innenstellen für die SCJN, das Bundeswahlgericht und das neu geschaffene Bundesdisziplinargericht. Ebenso betrifft es die Hälfte der insgesamt 772 Richter*innenstellen der erstinstanzlichen Bundesgerichte (Distritos). Auch die Hälfte der 928 Richter*innenstellen an den zweitinstanzlichen Bundesgerichten (Circuitos) fällt darunter. Die andere Hälfe der Stellen an den Bundesgerichten soll 2027 auch mittels Wahlen besetzt werden. Aus Sicht der neuen Regierung soll die Direktwahl der Richter*innen durch die Bürger*innen die Justizarbeit verbessern, das Vertrauen in die Justiz stärken und die Korruption eindämmen.
Die strukturellen Probleme der mexikanischen Justiz [...] werden allein durch die Direktwahl neuer Richter*innen nicht gelöst werden.
Kritiker*innen – darunter Rechtsexpert*innen, Menschenrechtsorganisationen und politische Beobachter*innen – sehen jedoch die Gefahr der politischen Vereinnahmung sowie das Risiko einer erheblichen Schwächung der mexikanischen Judikative und des Zugangs zu Justiz. Die Gerichte der Bundesgerichtsbarkeit sind insbesondere für Verfassungsbeschwerden und den einstweiligen verfassungsrechtlichen Rechtschutz (sogenannte amparos) gegen Handlungen von Organen der Exekutive zuständig. Die strukturellen Probleme der mexikanischen Justiz – viel Bürokratie, eine langsame Justiz und eine hohe Straflosigkeit – werden allein durch die Direktwahl neuer Richter*innen nicht gelöst werden.
Eine neue Agenda für Frauen?
In den ersten 100 Tagen hat Sheinbaum das Nationale Fraueninstitut in das erste Ministerium für Frauen umgewandelt und ein Rentenförderprogramm für Frauen zwischen 60 und 64 Jahren angekündigt. Auch das Recht auf materielle Gleichheit und auf ein Leben ohne Gewalt für Frauen ließ Sheinbaum in die Verfassung aufnehmen und kündigte an, die Kluft bei Gehältern von Männern und Frauen zu reduzieren. Der Kampf gegen die Gewalt an Frauen bleibt aber eine ihrer größten Herausforderungen. Im ersten Monat ihrer Regierung wurden von staatlichen Institutionen bereits mindestens 70 Feminizide dokumentiert.
Sheinbaum: „Kooperation, keine Subordination“ gegenüber den USA
Seit dem Wahlsieg Trumps Anfang November 2024 dominiert das neue Verhältnis der USA zu Mexiko die mexikanische Außenpolitik. Sheinbaum tritt nach außen politisch selbstbewusst auf. Auf Trumps Ankündigungen kurz vor und nach der Wahl, die Zölle auf mexikanische Importe um 25 Prozent erhöhen zu wollen, sollte Mexiko nicht entschiedener gegen Migration, Drogenkartelle und den Export der synthetischen Droge Fentanyl vorgehen, reagierte sie direkt in ihrer täglichen Pressenkonferenz. Sie wünsche sich ein gutes Verhältnis zwischen beiden Ländern, das auf Zusammenarbeit, nicht auf Unterordnung („Cooperación, no subordinación“) beruhe.
Gegenüber Trumps Ankündigung, illegale mexikanische Migrant*innen - in den USA leben ca. 4,8 der 11 Millionen Mexikaner*innen ohne gültige Papiere - deportieren zu wollen, betonte Sheinbaum den Beitrag der mexikanischen Arbeiter*innen für die US-amerikanische Wirtschaft. Außerdem kündigte sie an, die Rechtsberatungsangebote in den mexikanischen Konsulaten zu erhöhen. Für Mexiko machen die Geldüberweisungen mexikanischer Migrant*innen in ihre Heimat mit mehr als 60 Milliarden US-Dollar fast vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts aus. Auch die Aufnahme nicht-mexikanischer deportierter Migrant*innen stellte sie in Aussicht.
Mit dem selbstbewussten Auftreten gegenüber Trump will Sheinbaum vor allem innenpolitisch Stärke zeigen.
Auf den Vorwurf des Fentanylexports durch Drogenkartelle – der in den USA zwischen 2019 und 2023 zu circa 270.000 Drogentoten führte – erwiderte Sheinbaum, dass die Kartelle ihre Waffen vor allem aus den USA beziehen würden. Während die mexikanischen Drogenkartelle die Rohstoffe für die Fentanylproduktion aus China beziehen, kam eine Studie des US-Justizministeriums kürzlich zu dem Ergebnis, dass 75 Prozent der Waffen der Kartelle aus den USA, insbesondere Arizona, Texas, New Mexico und Kalifornien, stammen. Schließlich konterte Sheinbaum Trumps Vorschlag, den Golf von Mexiko in „Golf von Amerika“ umzubenennen, humorvoll: Sie verwies auf alte Landkarten und schlug vor, dass der Süden der USA wieder „Mexikanisches Amerika“ heißen könnte. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts hießen weite Teile des Südens der USA so, als sie noch zu Mexiko gehörten. 1845 annektierten die USA das sich zuvor von Mexiko abgespaltene Texas. 1848, nach dem Ende des dreijährigen Kriegs mit den USA und dem Friedensvertrag von Guadalupe Hidalgo, verlor Mexiko mehr als die Hälfte seines Staatsgebiets. Dazu gehörten neben Texas auch New Mexico, Kalifornien und Teile von Arizona, Utah, Nevada und Colorado. Während Trump darüber nachdenkt, mexikanische Kartelle als ausländische Terrororganisationen zu deklarieren, machte Sheinbaum bereits deutlich, dass sie keinen „Krieg gegen die Kartelle“ wie unter Ex-Präsident Felipe Calderon (2006-2010) führen und eine Verletzung der territorialen Integrität Mexikos nicht hinnehmen werde.
Mit dem selbstbewussten Auftreten gegenüber Trump will Sheinbaum vor allem innenpolitisch Stärke zeigen und punkten. Gleichzeitig versucht die mexikanische Regierung, Vorwürfe zu entkräften, sie gehe nicht entschieden genug gegen die mexikanischen Drogenkartelle vor. Im Bundesstaat Sinaloa bekämpfen sich seit mehreren Monaten die Söhne der beiden bekanntesten Drogenbosse und Gründer des Sinaloa-Kartells, Joaquín Guzmán Loera (alias El Chapo) und Ismael Zambada García (alias El Mayo), beide sitzen in den USA im Gefängnis. Inmitten dieser Auseinandersetzungen ließ Sheinbaums neuer Sicherheitsminister 20 Millionen Fentanyl-Pillen mit einem Verkaufswert von 400 Millionen US-Dollar beschlagnahmen.
Außerdem betonte Sheinbaum, dass die Mordrate seit ihrem Amtsantritt um mehr als 16 Prozent zurückgegangen sei. Dies sei auf ihre neue Sicherheitsstrategie zurückzuführen, die neben einer besseren Zusammenarbeit zwischen den staatlichen Sicherheits- und Justizbehörden (darunter das Sicherheitsministerium, die Bundes- und Landespolizei, Nationalgarde, Armee und die Staatsanwaltschaften) weiterhin auf Präventiv- und Sozialmaßnahmen zugunsten von Jugendlichen setze. Hier steht Sheinbaum vor der Herausforderung, einerseits die Sicherheitspolitik gegenüber Ex-Präsident López Obrador zu verbessern, anderseits aber dessen Beschwichtigungspolitik gegenüber den Kartellen nicht als unzureichend erscheinen zu lassen.
Mexiko zwischen Nearshoring, chinesischen Importen und dem Zugang zum US-Markt
Auf den Vorwurf Trumps, China würde Mexiko als „trojanisches Pferd“ für den Export von chinesischen Produkten in die USA missbrauchen, reagierte die mexikanische Regierung. So ging das mexikanische Wirtschaftsministerium unter Minister Marcelo Ebrard in den vergangenen Monaten verstärkt gegen asiatische und chinesische Produktpiraterie und illegal eingeführte Produkte vor. Mehrere Einkaufszentren in Mexiko-Stadt und in mexikanischen Bundesstaaten an der Grenze zu den USA wurden durchsucht und geschlossen. Waren, die unter Verletzung der Zollregelungen eingeführt wurden, und gefälschte Produkte - darunter Kleidung, Lebensmittel und Spielzeug - im Wert von 40 Millionen US-Dollar wurden beschlagnahmt. Wenngleich Ebrard betonte, dass sich diese Maßnahmen nicht direkt gegen rein chinesische Importe richten würde, schickt die mexikanische Regierung damit ein politisches Signal an die USA. Sie schickt aber auch ein politisches Signal an China, dass die wirtschaftlichen Beziehungen Mexikos zu den USA von zentraler Bedeutung sind.
Mexiko ist seit dem letzten Jahr der wichtigste Import-Handelspartner der USA und hat damit China abgelöst. Dies wurde unter anderem durch das Phänomen des Nearshoring seit der Covid-Pandemie begünstigt. Auch die Verlagerung von Lieferketten nach Mexiko im Zuge des Handelsstreits zwischen den USA und China trug dazu bei. Obwohl der chinesische Automobilhersteller BYD in der Vergangenheit Interesse an einer Investition in eine Autofabrik geäußert hatte, beteuerte Sheinbaum auf Nachfragen, dass dies derzeit nicht geplant sei. Das Unternehmen hatte ursprünglich angekündigt, bis Ende 2024 einen Standort auswählen zu wollen, um direkten Zugang zum lateinamerikanischen Markt zu bekommen. Derzeit baut BYD eine Fabrik in Brasilien.
Nachdem Elon Musk bereits vor knapp einem Jahr seine Pläne für den Bau einer Tesla Giga Factory in Mexiko auf Eis gelegt hatte, geht das politische Tauziehen um mögliche chinesische Investitionen in Mexiko weiter. Kürzlich verkündete Sheinbaum, dass Mexiko selbst ein günstiges Elektroauto – in drei verschiedenen Modellvarianten – bis 2030 produzieren werde.
Genau eine Woche vor Trumps Regierungsantritt präsentierte Sheinbaum mit ihrem „Plan Mexiko“ die wirtschaftliche Marschroute für die nächsten Jahre. Geplant sind weniger Importe aus Asien, dafür mehr staatliche und ausländische Investitionen in Schlüsselbranchen wie dem Infrastruktur-, Automobil-, Chemie-, Arzneimittel-, Elektronik/Technologie- und Tourismussektor. Außerdem ist die Rede von mehr Industrialisierung, nationaler Produktion und nationalem Konsum und wirtschaftlicher Integration mit den USA, insbesondere auf Grundlage des gemeinsamen Freihandelsabkommens. Vor diesem Hintergrund wird auch der noch ausstehenden Ratifizierung des modernisierten Freihandelsabkommens zwischen der EU und Mexiko eine neue besondere Bedeutung zukommen. Sheinbaum hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, dass Mexiko bis 2030 zu den 10 größten Volkswirtschaften der Welt zählt. Kürzlich war Mexiko von Platz 15 auf Platz 12 vorgerückt.
Schwerpunkte der Handels- und Außenpolitik sind noch unklar
Die Handelsbeziehungen Mexikos zu den USA und China werden daher in den kommenden Monaten und Jahren weiter im Mittelpunkt der politischen Beziehungen stehen. 2026 soll das 2020 in Kraft getretene neue Freihandelsabkommen TMEC zwischen Mexiko, USA und Kanada (auch als USMCA bekannt) neu überprüft werden. Das Abkommen soll bis 2026 gelten, sieht aber alle sechs Jahre die Möglichkeit einer Modifizierung der Klauseln vor. Es ist nicht auszuschließen, dass Trump dieses grundsätzlich in Frage stellen und versuchen könnte, wesentliche Veränderungen durchzusetzen.
Handelspolitische Maßnahmen als politisches Druckmittel werden dabei aber nicht nur für wirtschaftliche, sondern auch sicherheits- und migrationspolitische Fragen eine Rolle spielen. Und nicht zuletzt die Ankündigungen Trumps im Zusammenhang mit dem Panama-Kanal und Grönland wecken in Mexiko Sorgen. Diese betreffen die mögliche Verletzung der nationalen Souveränität und territorialen Integrität, insbesondere im Falle einer Deklarierung der mexikanischen Kartelle als ausländische Terrororganisationen und möglicher US-Spezialoperationen gegen sie auf mexikanischem Staatsgebiet.
Unter Sheinbaum zeichnet sich hier ein Richtungswechsel ab und Mexiko könnte wieder eine aktivere Rolle spielen, sowohl bei Fragen der internationalen Handelspolitik als auch bei Fragen der internationalen Klimapolitik.
Daher wird sich auch die Frage stellen, wie sich Mexiko gegenüber anderen geopolitischen Akteuren positionieren wird und wie diese mit Mexikos Rolle als wichtigen geopolitischen Akteur in Nord- und Mittelamerika umgehen. Für Ex-Präsident López Obrador galt die Devise: „Die beste Außenpolitik ist eine gute Innenpolitik“. Unter Sheinbaum zeichnet sich hier ein Richtungswechsel ab und Mexiko könnte wieder eine aktivere Rolle spielen, sowohl bei Fragen der internationalen Handelspolitik als auch bei Fragen der internationalen Klimapolitik. Es bleibt jedoch nach 100 Tagen der neuen Regierung abzuwarten, welche politischen Schwerpunkte Sheinbaum insbesondere in der Außen- und Klimapolitik setzen will und kann.
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de