Schwarzes Wissen: Erinnerungen für die Zukunft schaffen

Essay

Bibliotheken sind nicht nur Orte des Wissens, sondern auch der Begegnung. Sie dienen als Brücke zwischen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Welche Rolle Schwarze Bibliotheken und Wissensarchive für die Schwarze Community spielen und wie "afrofuturistische Orte" in der Zukunft aussehen können, erläutert Miriam Mona Mukalazi.

Lesedauer: 10 Minuten
Schwarzweiß-Foto einer Schwarzen Frau, die eine alte Kamera vor ihr linkes Auge hält

2021 war ich Teil eines Schreibkollektivs, organisiert von Black Vision Voices Tübingen. Über ein paar Monate hinweg trafen wir uns zum Schreiben. Am Ende hielten wir unser Heft in den Händen: Gefühlswelten: Zusammen (-) getrennt.  Während der Schreibphase fragte ich mich, wie viele solcher Hefte im Verborgenen schlummern und wo ich noch mehr Geschichten der Schwarzen Diaspora finden kann. Denn wenn es um unseren eigenen Kampf für Anerkennung in der Gesamtgesellschaft geht, drehen sich manchmal die Diskussionen innerhalb unserer eigenen Community im Kreis. Beispielsweise, wenn es um „Colorism“ und die damit verbundenen Privilegien in einer weiß-dominierten Gesellschaft geht.

Zum Teil liegt das daran, dass wir oft keinen Zugang zu den Geschichten eines Anton Wilhelm Amos1  haben, der sich schon im 18. Jahrhundert mit Fragen Schwarzer Identitäten beschäftigt hat. Um unsere aktuelle Situation besser verstehen zu können, ist es jedoch wichtig, die vielfältigen Geschichten der Vergangenheit zu kennen. Auch schon im Europa des 18. Jahrhunderts gab es unterschiedliche Lebensrealitäten Schwarzer Menschen. Ihr Alltag wurde auch damals schon von verschiedensten Merkmalen wie Klassenzugehörigkeit, Alter oder Geschlecht beeinflusst. So können wir aus den Geschichten der Vergangenheit Inspiration schöpfen. Wir können Parallelen zwischen den Visionen für eine gerechtere Zukunft unserer Vorfahren und unseren heutigen Vorstellungen ziehen.

Aktuell ist die bittere Realität jedoch, dass unsere Geschichten weiterhin verdrängt oder durch eine weiße Geschichtsschreibung verzerrt werden. Es liegt also an uns selbst, uns auf die Suche nach den verborgenen Schätzen Schwarzer Kultur und Geschichte zu machen, und diese für die kommenden Generationen aufzuarbeiten und zu bewahren. Dies ist in einer von Rassismus geprägten Gesellschaft wie der deutschen keinesfalls ein einfaches Unterfangen. Laut der Autorin Toni Morrison hat Rassismus auch die Funktion, uns abzulenken. Wir beschäftigen uns mit den Rassismen in der Bahn, beim Arzt oder sogar in den eigenen Familien.

Manchmal entscheiden wir uns bewusst dazu, uns mit Rassismus auseinanderzusetzen, oft haben wir jedoch keine Wahl und werden mit Rassismen konfrontiert. Als Schwarze Menschen in Deutschland können wir uns nur selten den Raum nehmen, losgelöst von Rassismus über die Zukunft nachzudenken. Entweder sind wir noch dabei, unsere Vergangenheit aufzuarbeiten. Oder wir sind damit beschäftigt, unseren Platz in der Gegenwart zu finden. Rassismus lenkt uns ab und konsumiert unglaublich viel unserer Lebensenergie. Trotz all dieser Widerstände und vielleicht gerade ihretwegen bringen wir die Kraft für Träume und Utopien auf.

Es wagen, zu träumen

Wie schaffen wir es, uns den Raum zu nehmen, um sorglos zu träumen? Uns zu wagen, über afrofuturistische Utopien nachzudenken? Welche Orte können wir selbst erschaffen, damit alle in der Schwarzen Community einen Platz in diesem Zukunftsprojekt finden? Als Bücherwurm sind Schwarze Bibliotheken, Buchhandlungen und Archive zu genauso einem magischen Ort geworden. Stipendien haben es mir ermöglicht, an verschiedenen Universitäten zu forschen. Dieser privilegierte Zugang zu den prestigeträchtigen Bibliotheken einer Sorbonne IV in Paris oder einer Georgetown Universität in Washington D.C. sind für mich als Wissenschaftlerin unglaubliche Schätze. Wissen wird an diesen Orten bereits seit Jahrhunderten sorgsam erschlossen, zusammengetragen, aufbewahrt. Diese Wissensansammlungen symbolisieren den stetigen Appell, die Vergangenheit nicht zu vergessen und diese für die Zukunft im Hinterkopf zu behalten.

Martin Luther King Jr. Memorial Library
Martin Luther King Jr. Memorial Library

Es waren jedoch nicht diese Orte, an denen ich wertvolle menschliche Begegnungen hatte. Begegnungen, die mein zukünftiges Handeln prägen sollten. Es waren auch nicht diese Orte, an denen ich mir am besten vorstellen konnte, wie eine gerechtere Gesellschaft aussehen kann. Es waren die Schwarzen Bibliotheken, Buchhandlungen und Archive dieser Welt. Wir sollten daher die bereits geleistete Arbeit der Generationen vor uns würdigen und gleichzeitig deren Arbeit fortsetzen. Denn du und ich, wir können afrofuturistische Räume mitgestalten und Realität werden lassen. Wie können solche Orte in der Zukunft aussehen? Ein Gedankenexperiment mit Blick in die Zukunft. 

Ein Blick in die Zukunft 

An einem verregneten Tag im Oktober 2072 hole ich den kleinen Iyanu von der Afrekete3  Bibliothek in Bochum ab. Seine Eltern hatten ihn ursprünglich für den Malkurs mit der strengen Lehrerin Mbaja angemeldet. Iyanu hat aber Null Interesse am Malen und trifft sich stattdessen nun jeden Sonntag in der Bibliothek mit anderen Kindern. Hauptsächlich, um den Märchen des alten Akwasi zu lauschen. Zunächst kam der Rentner Akwasi in die Bibliothek, um Zeitungsartikel über das Leben des Ignatius Christianus Fridericus Fortunas4  in Essen einzuscannen. Dann begann Akwasi, den Kindern afrikanische Märchen zu erzählen. Seitdem treffen sie sich jeden Sonntag dort. Die Bibliothek ist ein öffentlicher Ort, für alle barrierefrei zugänglich.

Alle sind willkommen in dem vierstöckigen Altbau. Egal ob Studierende, die ihre Hausarbeit an den bereitgestellten Computern schreiben, oder Wohnungslose, die die Computer nutzen, um mit ihren Familien zu chatten. Die Bibliothek ist für alle da. Rechts neben den Computern im ersten Stock befindet sich eine leere Ecke. Dort stellen Nachwuchskünstler*innen ihre Werke aus. An den Wänden im zweiten Stock hängen Fotos von Schwarzen Wissenschaftler*innen. In der Sitzecke auf dem gleichen Stockwerk gucken die meisten Leute Filme oder halten ein Nickerchen. Iyanus Lieblingsraum befindet sich im 3. Stock der Bibliothek. Dort hängt er meistens mit seiner besten Freundin Anisha ab. Den beiden gefällt der Raum so sehr, da es dort die Comics auch als Hörbücher gibt. In den Regalen stehen Geschichtsbücher mit großer Schrift und Noémie kann hier sogar ihre Lieblingskrimibücher in Brailleschrift lesen. 

Da Iyanu weiß, dass ich ihn um 17:30 Uhr abhole, versteckt er sich oft noch in der Kinderrutsche im vierten Stock, um Zeit zu schinden. Wenn sich die Herbstsonne ab und zu blicken lässt, gönne ich mir noch einen scharfen Ingwertee mit Orange auf der Dachterrasse. Oft finden auf der Dachterrasse im Sommer Konzerte oder Vorträge statt. Erst neulich hatte Oge einen "Black Women Brunch" organisiert. Ihrer Einladung sind Jung und Alt gefolgt. Die Frauen haben sich bei diesem Treffen vor allem über ihre Spiritualität unterhalten, aber auch Finanztipps ausgetauscht. Es ist also nicht gelogen, dass wirklich für jede Person etwas dabei ist. 35 Jahre sind nun vergangen, seitdem die Bibliothek ihre Türen geöffnet hat. Zu Beginn initiiert von Ehrenamtlichen und finanziert durch Spenden, wird die Bibliothek mittlerweile komplett von der Stadt finanziert. 2072 ist die Utopie also zur Realität geworden.

Ein Blick in die Gegenwart 

Orte wie die fiktive Afrekete Bibliothek existieren bereits. Oft blicken wir sehnsüchtig in die USA. Mit Blick auf Projekte wie die Martin Luther King Jr. Memorial Bibliothek in Washington D.C. ist diese Sehnsucht nachvollziehbar. Dass auch in ganz Europa Schwarze Bibliotheken existieren, habe ich selbst erst 2021 erfahren. Schwarze Archive und Bibliotheken in Europa sind Orte der Erinnerung eines Schwarzen Europas. Diese Orte schaffen nicht nur einen Gegenentwurf zu gängigen Narrativen über Schwarze Menschen im vermeintlich weißen Europa, sie archivieren auch die Geschichten und das Wissen Schwarzer Menschen und machen es sichtbar, schaffen Orte für Begegnungen und Austausch. Europaweit sammelten Schwarze Menschen Briefe, Fotos und Bücher mit dem Ziel, das ganze Spektrum an Schwarzen Lebensrealitäten für unsere Community sichtbar zu machen. Mit dem Ziel der Selbstermächtigung wurden Schwarze Räume erschaffen. The Black Archives in Amsterdam ist ein Beispiel für einen solchen Ort.

"Black Archives" (Amsterdam)
"Black Archives" (Amsterdam)

Die Otto and Hermina Huiswoud Sammlung dort zeigt, wie Schwarzer Widerstand in den niederländischen und britischen Kolonien mit der Bürgerrechtsbewegung von W.E.B. DuBois und Ida B. Wells verknüpft ist. Auch in Deutschland existieren Schwarze Archive und Bibliotheken, wie die Theodor Wonja Michael Bibliothek, die als erste Schwarze Bibliothek NRWs im Februar 2022 in Köln ihre Pforten öffnete. Die Bibliothek gehört dem Verein Sonnenblumen Community Development Group an. Ihr Ziel ist, die Diversität afrikanischer bzw. Schwarzer Kultur und Geschichte zu porträtieren, und so Rassismuskritik und Empowerment sowohl innerhalb als auch außerhalb der Schwarzen Community zu fördern. Von Science-Fiction bis zu Sachbüchern finden hier Werke Schwarzer Autor*innen aller Genres Platz. Auch die 2014 in Berlin eröffnete Bibliothek von Each One Teach one e.V. (EOTO) ist ein Ort für Recherche zu afrodiasporischer Literatur, Philosophie und Kultur und basiert maßgeblich auf den Sammlungen der afrodeutschen Aktivistin Vera Heyer.

Solch eine Vielfalt an Werken findet sich meistens nur in selbstorganisierten Bibliotheken. So sind es oft ehrenamtliche Initiativen und deren freiwillige Mitarbeiter*innen, die wichtige Bildungsarbeit für die heutige und kommende Generationen leisten. 2022 machte die Bundesregierung bekannt, dass 5,2 Millionen Euro zur Finanzierung eines ersten selbstverwalteten Zentrums von und für Schwarze Menschen in Deutschland zur Verfügung gestellt werden sollen. Ein wichtiges politisches Signal, dass auf weitere Initiativen hoffen lässt. Gerade weil viele von uns oft die Dinge selbst in die Hand nehmen müssen und dass oftmals mit unglaublich wenig Geld. Trotz bürokratischer Hürden stellen wir Veranstaltungen, Lesungen, Diskussionen und Seminare auf die Beine. Am Ende erhalten wir für diesen gesellschaftlichen Beitrag kaum Anerkennung. Diese Erfahrungen sind schon fast gängige Kriterien für migrantische Selbstorganisation, Selbstermächtigung und Widerstandspraxis in diesem Land.

Die Schaffung eigener Räume wird zu einem Akt des Widerstands. In der Regel finden wir in den gängigen Buchhandlungen Deutschlands Schwarze Autor*innen meist nur in dem Regal mit den Großbuchstaben „DIVERSITÄT“ oder „ANTI-RASSISMUS“. Dies ist per se nicht problematisch. Es bildet jedoch nicht die gesamte Bandbreite von Themen ab, über die Schwarze Menschen schreiben. Die eindimensionale Darstellung reduziert das literarische Wirken Schwarzer Menschen alleinig auf Themen wie Rassismus oder Diversität. Obwohl solche Aktionen durch vermeintlich gute Absichten motiviert sind, verfestigen sie (un-)absichtlich stereotypische Bilder in den Köpfen. Zusätzlich zeigt es, dass Schwarze Wissensproduktion nur existieren darf, wenn es sich hauptsächlich an ein weißes Publikum richtet. Schwarze Räume von uns für uns sind daher bitter nötig. 

Erinnerungen für die Zukunft schaffen

Diese Orte sind für uns in Europa jedoch mehr als nur eine Ansammlung von riesigen Bücherregalen und verstaubten Kisten. Es sind Orte der Begegnungen, der Entfaltung und der Selbstermächtigung. Die Liste der Community Events in den Schwarzen Bibliotheken Europas ist lang: Podcastaufnahmen, Poetry Slams, Kunstausstellungen – denn wir geben unser Wissen nicht nur in Büchern weiter, sondern auch durch Märchen, Tänze oder Bilder. Schwarze Bibliotheken sind deshalb eine Brücke zwischen der afrikanischen Diaspora und dem afrikanischen Kontinent, eine Brücke zwischen der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.

 


(1) Im heutigen Ghana geboren, wurde Anton Wilhelm Amo versklavt. Sein unfreiwilliger Weg nach Deutschland führte zunächst über die Niederlande. Er beschäftigte sich mit der juristischen Gleichstellung Schwarzer Menschen in Europa und erhielt 1734 den Doktortitel der Philosophie an der Wittenberger Philosophischen Fakultät.

(2) Portland State University’s Oregon Public Speakers Collection: “Black Studies Center public dialogue. Pt. 2,” May 30, 1975 (http://bit.ly/1vO2hLP). Part of the Public Dialogue on the American Dream Theme, via Portland State University Library (http://bit.ly/1q8HG3h). Morrison’s speech is entitled “A Humanist View. p.7

(3)  Afrekete war eine Zeitschrift von (hauptsächlich lesbischen) Schwarzen Frauen. Die erste Auflage erschien 1988 und wurde stark von Audre Lordes Aufenthalt in Berlin beeinflusst. 

(4) Als Kind versklavt und unfreiwillig 1735 nach Essen gebracht, erhielt er später den Namen Ignatius Christianus Fridericus Fortuna. Er lebte als „Kammerdiener“ bei der Essener Fürstäbtissinnen Franziska Christine von Pfalz-Sulzbach und Maria Kunigunde von Sachsen

 


Dieser Beitrag ist Teil des Dossiers "Schwarz in Deutschland", das im Rahmen einer Veranstaltung am 2. Mai in der Heinrich-Böll-Stiftung vorgestellt wird.