Antisemitismus ist in weiten Teilen des rechtsextremen Spektrums allgegenwärtig und scheint im Denken vieler AfD-Mitglieder fest verankert zu sein.
Der 7. Oktober 2023 markiert nicht nur einen Wendepunkt in der gewaltvollen israelisch-palästinensischen Geschichte. Gleichzeitig tobt in den westlichen Gesellschaften ein Kampf um die Deutungshoheit über die Ereignisse, und die Lager stehen sich scheinbar unversöhnlich gegenüber. In dieser extremen Polarisierung der Gesellschaft versucht das politisch konservative bis rechte Spektrum in Deutschland, Antisemitismus zu instrumentalisieren und die Verantwortung dafür auszulagern. Es wird von importiertem Antisemitismus gesprochen und einseitig der migrantische Charakter hervorgehoben. Die eigene Vergangenheit wird in Teilen gänzlich ausgeblendet. Hierbei handelt es sich um eine Verdrehung der Tatsachen. Insbesondere die AfD inszeniert sich gerne selbst als die einzig wahre Verteidigerin des israelischen Staates und jüdischen Lebens in Deutschland. Ein genauerer Blick auf Aussagen von AfD-Parteifunktionär*innen und Redebeiträgen im deutschen Bundestag entlarvt jedoch relativ schnell das antisemitische Weltbild, das sich in großen Teilen der Partei wiederfindet.
Antisemitische Codes und Verschwörungsnarrative
Antisemitismus tritt trotz strafrechtlicher Verfolgung immer noch offen und unverhohlen zu Tage, jedoch auch häufig als „Wolf im Schafspelz“ verdeckt und mit Hilfe von Umschreibungen und Codes1, auch um strafrechtliche Verfolgung zu umgehen. Viele der sogenannten Codes sind seit Jahrhunderten überliefert und dementsprechend im kollektiven Gedächtnis verankert. Sie werden verwendet, ohne eine bewusst antisemitische Agenda verbreiten zu wollen. Dieser Umstand macht die Nutzung und Reproduktion nicht weniger gefährlich. Sehr häufig werden sie jedoch auch als bewusste Strategie eingesetzt, um Tabubrüche und strafrechtliche Verfolgung zu vermeiden und gleichzeitig antisemitisches Gedankengut zu äußern, das von denjenigen, die dies decodieren können, jederzeit verstanden wird. Die Verbreitung von Hass auf Jüdinnen:Juden kann somit auf subtile Art und Weise sowohl bei Sender*innen als auch Adressat*innen vorangetrieben werden.
Der „Great Reset“2 der westlichen Gesellschaft
Insbesondere seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie hatte der Begriff des „Great Reset“ Hochkonjunktur. Dieser spielt mit der Unterstellung einer global im Hintergrund agierenden (jüdischen) Elite, deren Ziel es sei, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Beim „Great Reset“ („Große Transformation“) wird dabei die Begrifflichkeit des Weltwirtschaftsforums übernommen. Dieses wollte mit dem Begriff der großen Transformation Vorschläge für eine nachhaltigere Neugestaltung der Weltwirtschaft nach Überwindung der Pandemie formulieren. Von diversen Verschwörungsideolog*innen wurden diese Vorschläge jedoch uminterpretiert und Covid-19 als inszenierte Krankheit bezeichnet, um den „Great Reset“ der Gesellschaft voranzutreiben. Hier wird der Mythos der „jüdischen Weltverschwörung“ also in neuem Gewand erzählt, gestützt auf absichtlich falsch interpretierte Aussagen. In Anlehnung an die eben beschriebenen Konstrukte werden auch häufig die Codes des „Strippenziehers“ oder „Marionettenspielers“ bemüht. Diese stellen ebenfalls eine Anspielung auf eine allmächtige (jüdische) Elite dar, welche die Menschheit in Geiselhaft hält.
Die vermeintliche Logik hinter einer „neuen Weltordnung“
Der behauptete „Große Austausch“ führt in der verqueren Logik der Verschwörungsmythen zwangsläufig zu einer „neuen Weltordnung“, „New World Order – NWO“ oder „One World“. Als weiterer Code fällt hier des Öfteren der Name des jüdischen US-Amerikaners George Soros, der für viele Menschen, die diesen Mythen anhängen, als eine Art Anführer der globalen jüdischen Elite und Inbegriff „des Bösen“ gilt. Besonders in rechten bis rechtsextremen Kreisen finden diese Gedankenmuster große Verbreitung. Die antisemitischen Attentäter von Christchurch (2019) und Halle (2019) beriefen sich in ihren Manifesten auf die Angst vor dem „Großen Austausch“, gegen den sich mit aller Macht zur Wehr gesetzt werden müsse.
Auch Begriffe wie „Finanzelite“ und „Hochfinanz“ oder in bestimmten Kontexten verwendete Wörter wie „Ostküste“ und „Wall Street“ gehen in diese Richtung. Hier wird an den Verschwörungsmythos der jüdischen „Hochfinanz“ bzw. des „Geldjudentums“ angeknüpft. Danach halten „die Juden“ die finanziellen Geschicke der Welt und damit die politische Macht in ihren Händen. Hierbei wird immer noch der Begriff der jüdisch-amerikanischen Bankiers-Familie Rothschild verwendet, der in der Verschwörungs-Szene als Sinnbild für den „Wucherjuden“ und die Herrschaft „der Juden“ über das internationale Finanzsystem gilt. Verbreitet wird die angebliche Verbindung zwischen Finanzen und Jüdinnen:Juden schon seit dem Mittelalter, woraus sich das bis heute anhaltende Stereotyp entwickelte. Der Name Rothschild kristallisierte sich zwar als berühmtester Name heraus, ist jedoch bei weitem nicht der Einzige, der als antisemitischer Code verwendet wird. Wer „die Rothschilds“ als „Strippenzieher“ der internationalen Finanzwelt sieht, ist nicht weit davon entfernt, Namen wie George Soros, Bill Gates, Marc Zuckerberg, Anetta Kahane oder Rockefeller3 zu nennen und diese als Konglomerat von Drahtziehern einer globalen Weltverschwörung zu sehen.
Antisemitische Codes und Verschwörungsnarrative im Deutschen Bundestag
Die AfD und der „Great Reset“
Zunächst kann festgestellt werden, dass dieser Verschwörungsmythos eine wichtige Rolle in der Einstellung vieler Parlamentarier*innen der AfD spielt. Klar ist, dass sich, ob aus Kalkül zur Verbreitung von antisemitischem Gedankengut und/oder aus Misstrauen gegenüber den politischen Verantwortlichen, ein starker Glaube an verschwörerische Eliten aus Politik, Medien und Gesellschaft durch große Teile der Partei zieht. Im Ergebnis werden antisemitische Verschwörungsmythen benutzt, um die eigene Unzufriedenheit auszudrücken.
„Wir schreiten derzeit mit großen Schritten in Richtung ‚Große Transformation’ (Herv. i. Org.). Für diejenigen, die diesen Begriff nicht kennen: Bei der ‚Großen Transformation’ (Herv. i. Org.) geht es um das Erzwingen einer weltweiten, radikalen Umgestaltung unseres Lebens zu einer klimaverträglichen Gesellschaft ohne Nutzung fossiler Brennstoffe“ (Deutscher Bundestag, Espendiller 2020: 19/140).
„Und das ist nur der Auftakt für die als Great Reset getarnte gesamtgesellschaftliche Transformation. Die Initiatoren behaupten, die Zukunft der kommenden Generationen zu sichern. Jedoch ist genau das Gegenteil der Fall. […] Ihre Vorstellung der weltweiten Transformation innerhalb der nächsten 25 Jahre ist ein menschenverachtendes Sozialexperiment zulasten der kommenden Generationen“ (Deutscher Bundestag, Kraft 2021: 19/231).
„New World Order“ durch „Großen Austausch“
Ein weiterer identifizierter Themenbereich umfasst die sogenannte „New World Order“ beziehungsweise den „Großen Austausch“. Den Eliten in Deutschland und auf internationaler Ebene wird vorgeworfen, alle kulturellen und herkunftsbedingten Unterschiede in der Gesellschaft auslöschen zu wollen.
Die Analyse der Redebeiträge der AfD-Parlamentarier*innen ergibt eine hohe Anzahl in dieser Kategorie. Allerdings werden sie meist nur angedeutet. Insbesondere der Abgeordnete Gottfried Curio fällt hier immer wieder mit diskussionswürdigen Aussagen auf:
„Das langfristige Ziel aller dieser alten und neuen Regelungen ist offensichtlich die Auflösung des deutschen Staatsvolks als jahrhundertelange Abstammungs- und Kulturgemeinschaft zugunsten einer schrittweisen Umwandlung Deutschlands in ein geschichts- und gesichtsloses Siedlungsgebiet für Ausländer jedweder Herkunft und Kultur durch die bewusste Unterlassung einer aktivierenden Familienpolitik zugunsten der rapide abnehmenden deutschen Bevölkerung“ (Deutscher Bundestag, Curio: 19/236).
Oder aber, dass „diese Politik, Deutschland mit Migranten zu fluten, den Sozialstaat durch Überdehnung zu zerstören, [und] den Rechtsstaat in den Kollaps zu treiben, […] gefährlicher politischer Extremismus“ sei (Deutscher Bundestag, Curio 2020: 19/140). Weiterhin erklärt Curio auch, dass, „Unter dem Label ‚Asyl_ (Herv. i. Org.) […] tatsächlich eine aggressiv forcierte Massenmigration nach Europa und Deutschland statt[finde]“ (Deutscher Bundestag, Curio 2021: 19/217).
Karsten Hilse, auch in der aktuellen Legislaturperiode Mitglied des Bundestages, verwendet das Bild einer Flutkatastrophe, um die angeblich forcierte Migration nach Deutschland zu beschreiben:
„Der Rest des Bundestages ist darauf bedacht – oder nimmt es zumindest billigend in Kauf –, Deutschland mit immer mehr Migranten zu fluten“ (Deutscher Bundestag, Hilse 2020: 19/178),
oder er spricht von einer in Deutschland stattfindenden „Umvolkung“ (Deutscher Bundestag, Hilse 2021: 19/224), um nur einige Beispiele zu nennen.
All diese Textsegmente eint neben ihrem rassistischen Charakter die Behauptung, dass Migration nach Deutschland gesteuert und absichtlich forciert wird, um die hier lebende Gesellschaft vollständig auszutauschen oder aufzulösen. Dieser Austausch wird in der Logik der Verschwörungserzählungen von einer jüdischen Elite gesteuert.
Aufbauend auf dem Narrativ des „Großen Austauschs“ setzt die Verschwörungserzählung der „New World Order“ an. Diese wird von einzelnen AfD-Abgeordneten auch direkt genannt, was den Schluss zulässt, dass sie Vertreter*innen dieser antisemitischen Verschwörungserzählung sind und darüber hinaus keine Scheu besitzen, dieses Weltbild öffentlich in den Plenardebatten des Bundestages zu artikulieren. Ein offensichtliches Beispiel hierfür liefert die AfD-Abgeordnete Nicole Höchst, die in ihrer normal anmutenden Aufzählung beinahe nebenbei von der „neuen Weltordnung“ spricht:
„Solche Anreize wie Zukunftsangst, Arbeiten bis 67 plus, welthöchste Steuern und Abgaben zahlen, neue Weltordnung, totale staatliche Kontrolle und den Rest der Welt grundsätzlich den eigenen Bedürfnissen überordnen zu müssen […]“ (Deutscher Bundestag, Höchst 2020: 19/164).
Auch Uwe Witt reproduziert das Narrativ:
„Die Politik hier im Hohen Hause ist dem deutschen Volke gewidmet und nicht Ihren Wahnvorstellungen einer neuen Weltordnung“ (Deutscher Bundestag, Witt 2021: 19/230).
Die vermeintliche Spur der globalen Weltverschwörung
Obwohl in den Reden nicht explizit von jüdischen Eliten gesprochen wird, so haben diese Unterstellungen und Konstrukte einen tief antisemitischen Kern, der auch bei unbewusster Verwendung zur Stabilisierung dieser Stereotype führen kann. So verfestigt beispielsweise die Verwendung zahlreicher Codes, wie „Gates-Stiftung“, „George Soros“ oder „Marionetten“ diese Vermutung. Ganz allgemein wird seit dem Einzug der AfD im Bundestag von „global agierende[n] Konzerne[n], Finanzspekulanten und […] dubiose[n] NGOs“ (Deutscher Bundestag, Hilse 2020: 19/178) gesprochen. Des Weiteren wird häufig auf Hinterzimmer-Deals verwiesen, in denen unter Ausschluss der Öffentlichkeit neue Pläne geschmiedet werden. Verstärkt hat sich diese Tendenz noch einmal durch die Impfkampagne gegen die Ausbreitung von Covid-19. Der AfD-Abgeordnete Hansjörg Müller spricht hier beispielsweise von der „Bill & Melinda Gates Stiftung, welche die Weltgesundheitsorganisation unterwandert hat, um die Menschheit mit monopolisierten Zwangsimpfungen zu beglücken“ (Deutscher Bundestag, Müller 2020: 19/156). Thomas Seitz schlägt in eine ähnliche Kerbe:
„Aber es geht eben nicht nur um die Verflechtungen und die Einflussnahme seitens der Wirtschaft, sondern auch um Einflüsterungen seitens Ideologen und NGOs. Gerade Letztere müssen hier erfasst werden, da sie oft das Vehikel zur Umsetzung von Interessen von milliardenschweren Hintermännern sind, deren direkte Einflussnahme bei Bekanntwerden öffentliche Empörung auslösen würde“ (Deutscher Bundestag, Seitz 2020: 19/167).
Sekundärer beziehungsweise schuldabwehrender Antisemitismus
Wenn die Forderung nach einem „Schlussstrich“ vorgebracht oder von „Schuldkult“ gesprochen wird und von einer vermeintlichen „Auschwitzkeule“ die Rede ist, dann bewegen sich die Urheber*innen dieser Begrifflichkeiten, ob bewusst oder unbewusst, in antisemitischer Tradition. Opferzahlen werden aufsummiert, um sich von der Schuld des eigenen (deutschen) Volkes reinzuwaschen. Diese Form des codierten sekundären Antisemitismus hat seine Ursprünge bereits in der unmittelbaren Zeit nach Ende des zweiten Weltkriegs, als nach den ersten Verurteilungen führender Nationalsozialisten Stimmen nach einem „Schlussstrich“ laut wurden, die zu einer Amnestie der selbigen führten. In Folge legte sich ein Mantel des Schweigens über die Verbrechen der Deutschen an den Jüdinnen:Juden, der erst nach und nach ab den sechziger Jahren gelüftet werden konnte.
Die Aufarbeitung der Gräueltaten in Verbindung mit der Verurteilung der Verantwortlichen ist nach wie vor ein langwieriger Prozess. Forderungen wie von AfD-Politiker Björn Höcke nach einem Ende der „dämlichen Bewältigungspolitik“ und einer „erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad“ oder der aktuellen Vorsitzenden der AfD-Bundestagsfraktion Alice Weidel, die mit ihrer Partei für „[e]in Deutschland, in dem wir einander nicht die Taten längst verstorbener Generationen vorwerfen, um daraus politischen Profit zu schlagen, sondern Gräben zuschütten” (Nordkurier 2021), stehen will, stechen heraus. Solche Aussagen zeigen eindeutig auf, dass diese Art des Antisemitismus in Deutschland keine Ausnahme darstellt und wieder auf dem Vormarsch ist. Es ist daher umso wichtiger, diese Codes klar benennen zu können, um keine Normalisierung zuzulassen.
Geschichtsvergessenheit in der AfD
Ein interessantes Beispiel bietet ein Zitat von Martin Reichardt aus seiner Bundestagsrede vom 25. März 2021:
„Denn bald wird der Tag kommen, wo Volksvertreter gefragt werden: Warum haben Sie mitgemacht? Warum haben Sie nichts getan? Warum haben Sie geschwiegen? Und wahrscheinlich wird es dann wieder keiner gewesen sein wollen, meine Damen und Herren“ (Deutscher Bundestag, Reichardt: 19/218).
Ohne explizit die NS-Zeit zu nennen, kann dem Abgeordneten hier unterstellt werden, dass er mit diesen Fragen auf die Nachkriegszeit nach dem zweiten Weltkrieg anspielt und somit einen Vergleich zur gegenwärtigen Situation herstellt. In diesem Beispiel geht es um die pandemiebedingten Einschränkungen, die von der Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt beschlossen wurden. Mit dem nicht offen ausgesprochenen, aber intendierten Vergleich zwischen (Mit)-Täter*innen des nationalsozialistischen Regimes und Vertreter*innen der ehemaligen Regierung unter Kanzlerin Angela Merkel findet eindeutig eine Verharmlosung der Zeit des Nationalsozialismus statt.
Auch Ausschnitte aus Reden der Abgebordneten Martin Sichert und Gottfried Curio stehen exemplarisch für den weit verbreiteten sekundären Antisemitismus innerhalb der AfD-Fraktion im deutschen Bundestag:
„Und die Unverfrorenheit, mit der Sie hier gemeinsam Freiheit und Wohlstand vernichten, um dem Traum des absoluten Sozialismus näherzukommen, ist tatsächlich unfassbar. Nicht nur ich, sondern auch viele Mitbürger fühlen sich inzwischen an 1933 erinnert“ (Deutscher Bundestag, Sichert 2020: 19/183).
„Die Löschorgien im Netz trommeln täglich zum Marsch in den digitalen Totalitarismus. Man will alle Kritiker zum Schweigen bringen – eine Bücherverbrennung von gigantischem Ausmaß, meine Damen und Herren“ (Deutscher Bundestag, Curio 2021: 19/204).
Unter die Verharmlosung der NS-Zeit fallen weitere Themenbereiche, wie beispielsweise die „Ermächtigungsgesetz-Vergleiche“. Auch hier handelt es sich um eine Verharmlosung von Nazi-Verbrechen. In den Vergleichen geht es ausschließlich um die aufgrund der Covid-19-Pandemie verabschiedete Verordnung zur epidemischen Notlage nationaler Tragweite. Diese Verordnung wird von verschiedenen AfD-Abgeordneten mit Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933 verglichen:
„Im Frühjahr hat man eine Notlage ausgerufen, mit der man über Verordnungen alle Grundrechte außer Kraft setzen kann. Nach Aussage von Herrn Drosten gibt es aktuell Überlegungen, diese Notlage auf ewig zu verlängern. Spätestens wenn das geschieht, gibt es keinerlei Unterschied mehr zwischen einer epidemischen Notlage nationaler Tragweite und Hitlers Ermächtigungsgesetz von 1933“ (Deutscher Bundestag, Sichert: 19/183).
Daran anschließend spielt auch der deutsche Opfermythos eine gewichtige Rolle. Das Beharren an das Gedenken der „eigenen“ Opfer, die von den Alliierten im Zweiten Weltkrieg angegriffen worden seien, ist ein klassischer Abwehrmechanismus zur Relativierung des Holocausts. Oftmals wird im Zuge dessen auch versucht, die Zahl der Jüdinnen:Juden, die in Konzentrationslagern umgekommen sind, mit denen der nicht-jüdischen Bevölkerung, die durch Verteidigungs- und Gegenangriffsmaßnahmen der Alliierten ums Leben gekommen sind, aufzuwiegen, um die eigene Schuld zu mindern.
„Solange Sie die legitime Trauer um die eigenen Opfer als Anfachen eines Opfermythos diffamieren, ist Ihre Erinnerungspolitik in einer heillosen Schieflage, die auch noch die besten Absichten verderben muss“ (Deutscher Bundestag, Jongen: 19/184).
Eine weitere Kategorie lautet „Einführung einer neuen sozialistischen Diktatur“ und stellt ebenfalls eine Spielart der Verharmlosung der NS-Zeit dar. In einigen Textsegmenten äußern sich AfD-Parlamentarier (in diesem Fall ausschließlich Männer) hinsichtlich eines grünen Sozialismus, der nach Ansicht der AfD von den anderen Parteien, eingeführt werden soll und in einer Kontinuität mit dem braunen und roten Sozialismus der Vergangenheit in Deutschland stehen würde. Exemplarisch für diese Verharmlosung steht folgende Textstelle:
„Das verleitet uns als AfD dazu, zu sagen: Nie wieder Sozialismus in diesem Land, nirgendwo auf dieser Welt, weder roten noch braunen, schon gar keinen sich anbahnenden grünen Sozialismus“ (Deutscher Bundestag, Brandner: 19/150).
Auch die Verwendung von Versatzstücken aus dem Nationalsozialismus ist keine Seltenheit. Ein Beispiel hierfür liefert Markus Frohnmaier:
„Sie machen mit dem Konzept ‚Klima-flüchtling’ (Herv. i. Org.) jetzt so richtig ernst und fordern die totale Migration“ (Deutscher Bundestag, Frohnmaier 19/176).
Er spielt damit auf den berühmten Satz des Reichspropagandaministers Joseph Goebbels an, der Anfang 1943 die Entfesselung des „totalen Krieges“ forderte (vgl. Ullrich 2008).
Darüber hinaus findet vor allem das „Schlussstrich-Narrativ“ häufig Verwendung. Das aktive Erinnern an die Singularität der deutschen Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus soll reduziert und der Blick nach vorne gerichtet werden. Konkret äußert sich beispielsweise der Abgeordnete Marc Jongen folgendermaßen:
„Rücken Sie ab von diesem verkorksten Gratisbüßertum, und nehmen Sie die Umfrage des Deutsch-Polnischen Barometers ernst, […] die nämlich klar ergeben hat: Eine Mehrheit der Deutschen und der Polen will sich auf Gegenwart und Zukunft konzentrieren, nicht auf die Vergangenheit“ (Deutscher Bundestag, Jongen: 19/187).
„Es ist ihr Verständnis von Geschichte, in der alle deutsche Staatlichkeit und Kultur konsequent auf das Dritte Reich und seine Verbrechen zuläuft […]. Aber dieses undifferenzierte Schuldnarrativ in Bezug auf die gesamte deutsche Geschichte war damals schon falsch, und es bleibt heute genauso falsch“ (Deutscher Bundestag, Jongen 2020: 19/192).
Antisemitismus „Made in Germany“
Zur Positionierung der AfD gegenüber Antisemitismus attestiert der unabhängige Expertenkreis Antisemitismus des Deutschen Bundestages in einem Bericht von 2017 folgendes:
„Gerade hier wird deutlich, dass die AfD zu den Parteien zählt, die den Antisemitismus aus strategischen Gründen ablehnen, ihn aber latent in den eigenen Reihen dulden. Demnach ist die AfD in der Gesamtbetrachtung keine antisemitische Partei, sie hat aber mit Abstand das größte Antisemitismus-Problem – zumindest von den behandelten Parlamentsparteien“ (Unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus 2017: 144).
Die inhaltlichen Analyse von Plenarprotokollen des zweiten Teils der 19. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages lässt den Schluss zu, dass antisemitische Codes in den Redebeiträgen des Untersuchungszeitraums keine Ausnahme darstellen, auch wenn in keiner Textstelle konkret Jüdinnen:Juden genannt werden.
Die oben zitierten Abgeordneten bleiben oftmals bei Andeutungen oder imaginieren Verschwörungen, ohne zu verdeutlichen, wen sie als dahinterstehend sehen, um sich im Notfall darauf beziehen zu können, „falsch“ verstanden worden zu sein.
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in beträchtlichen Teilen der AfD auf Bundesebene tiefgehende antisemitische Denkstrukturen und Wertvorstellungen verankert sind. Auch wenn die Partei nur schwer als antisemitisch eingestuft werden kann, so sind doch an vielen Stellen deutliche Parallelen zu bekannten antisemitischen Verschwörungsnarrativen und antisemitische Denkmuster festzustellen. Antisemitismus war und ist in der deutschen Gesellschaft und weiten Teil des rechtsextremen politischen Spektrums omnipräsent und scheint im Denken vieler AfD-Abgeordneter strukturell verankert zu sein.
Lukas Lorenz ist Politikwissenschaftler. Der Text beruht auf seiner Masterarbeit aus 2023.
Footnotes
- 1
Der Begriff Code wird in diesem Kontext als verschlüsselte Umschreibung antisemitischer Inhalte genutzt.
- 2
Nachfolgend werden die Codes in Anführungsstrichen abgebildet. Dadurch soll deutlich gemacht werden, dass es sich um nicht reale Konstrukte handelt.
- 3
Gates und Rockefeller sind nicht jüdisch. Ihnen wird aufgrund ihrer mächtigen Positionen trotzdem unterstellt, für „die Juden“ zu arbeiten oder ihr Judentum zu verheimlichen.