Der Fall der Berliner Mauer und die Friedliche Revolution in der DDR machten den Weg für Deutschlands Wiedervereinigung frei. Doch noch immer gibt es eine Kluft zwischen Ost und West. Dazu diskutierten der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk (Jahrgang 1967), die Mitte der Siebziger Jahre geborene Politikwissenschaftlerin und Vorständin von Perspektive³ e.V., Judith Enders und der mehr als zehn Jahre nach dem Mauerfall geborene Stadtrat des sächsischen Sebnitz, Paul Löser, am 9. Oktober bei der Podiumsdiskussion „75 Jahre Grundgesetz & 35 Jahre Friedliche Revolution“.
In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 fällt die Berliner Mauer – ein Ereignis, das die Welt verändert. Ein Jahr später ist auch die DDR Vergangenheit, die Bürgerrechtler*innen und viele Bürger*innen der DDR haben das SED-Regime in einer Friedlichen Revolution gestürzt und den Weg für ein geeintes Deutschland freigemacht. Doch mehr als drei Jahrzehnte später zeigt sich, dass das Land längst nicht in allen Belangen zusammengewachsen ist. Das Interesse an demokratischer Teilhabe und das Vertrauen in das Grundgesetz ist bei Menschen mit ostdeutscher Sozialisierung geringer. Auch darum wird noch immer darüber diskutiert, ob die Erneuerung des Grundgesetzes im wiedervereinten Deutschland dazu beigetragen hätte, Ost und West enger zusammenzubringen.
Hätte eine Verfassungsreform etwas geändert? Wie kann die Erinnerung an die turbulenten Wendejahre lebendig gehalten werden, welche Erzählungen über diese Zeit dominieren? Und wie können das Vertrauen in die Demokratie gestärkt und die Gräben zwischen Ost und West überwunden werden? Diese Fragen diskutierten der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk, die Politikwissenschaftlerin und Vorständin von Perspektive³ e.V., Judith Enders und der Stadtrat des sächsischen Sebnitz, Paul Löser, am 9. Oktober bei der Podiumsdiskussion „75 Jahre Grundgesetz & 35 Jahre Friedliche Revolution“. Anlässlich des 35. Jahrestages des Mauerfalls bieten wir mit diesem Text Ausschnitte aus dem von Stiftungsvorstand Jan Philipp Albrecht moderierten Gespräch sowie Zitate aus kurzen Gesprächen, die wir danach mit den Gästen geführt haben. Die gesamte Diskussion können Sie hier anschauen.
Überfordert von den Umschwüngen
Unbestritten ist, dass der grundlegende Systemwechsel nach der Wende für die Menschen in Ostdeutschland große Umschwünge mit sich brachte. Ilko-Sascha Kowalczuk, der sich als Publizist stark mit der Aufarbeitung der SED-Diktatur befasst, schilderte die Herausforderung, die politische, wirtschaftliche, soziale, rechtliche und verwaltungstechnische Umstrukturierung der 1990er Jahre zu bewältigen. Die daraus resultierende „Transformationsüberforderung“ wirke in Ostdeutschland bis heute noch nach:
„Fünf Millionen Ostdeutsche haben Ostdeutschland seit 1990 verlassen, was den ganzen Raum extrem verändert hat,“ erläuterte er und verwies auf die so entstandenen sozialen und kulturellen Brüche. Dazu komme die „Überforderung durch die aktuelle globale digitale Transformation“, die vielerorts das Erstarken von Populisten und Extremisten befeuere, die „auf hochkomplizierte Fragen ganz einfache Antworten“ gäben. In Ostdeutschland sei dies besonders ausgeprägt, da sich zwei Transformationsschocks überlagerten und daraus eine besondere Schärfe von Verlustängsten entstehe.
Jung und Alt, Stadt und Land: Unterschiedliche Blicke
Doch ist die Unterscheidung zwischen Ost und West überhaupt noch sinnvoll? Oder sind die Unterschiede zwischen städtischen und ländlichen Räumen inzwischen relevanter, wollte der Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, Jan Philipp Albrecht wissen.
Die Politikwissenschaftlerin Judith Enders bejahte, dass auch das Stadt-Land-Gefälle beeinflusse, wie sich die demokratische Kultur in unterschiedlichen Regionen entwickelt. Sie warf aber noch einen weiteren Aspekt auf: die Frage der Generationenzugehörigkeit. Die Art und Weise, wie man die historischen Ereignisse rund um die Wende wahrnehme, hänge stark davon ab, ob man selbst dabei war oder sie nur aus Erzählungen kenne, so Enders, die 2009 die Initiative „Dritte Generation Ostdeutschland“ mitbegründete und heute Vorstandsmitglied des daraus hervorgegangenen Vereins „Perspektive hoch 3 e. V.“ ist.
Am Tag des Mauerfalls war ich 13 Jahre alt, saß allein vorm Fernseher und habe diese Pressekonferenz von Schabowski gesehen. In dem Moment ist es richtig in mein Herz gefahren und ich wusste, ab morgen wird alles anders sein. Das war ein Tag der Freude, der Euphorie und gleichzeitig der Anfang einer Zeit, in der alles anders wurde und wo ein Gefühl von Freiheit auch auf mich als Jugendliche zukam, von dem ich niemals in meinem Leben gedacht hätte, dass ich das erleben kann. (Judith Enders)
Schneller Weg zur D-Mark versus langsamer Weg der Selbstdemokratisierung
In der Frage, ob eine Verfassungsdiskussion nach der Wiedervereinigung eine gesamtdeutsche Identität hätte stiften können, gab es unterschiedliche Ansichten. Kowalczuk sagte, er hätte es für vernünftig gehalten, wenn „man den langsamen Weg der Selbstdemokratisierung wählt“ – also „Reform der DDR, um auf Augenhöhe mit der Bundesrepublik nach Artikel 146 über die Deutsche Einheit verhandeln zu können und das auf dem Wege über die Einberufung einer verfassungsgebenden Nationalversammlung“. Doch die deutsche Geschichte sei über solche Diskussionen hinweggerauscht. Schon im März 1990, am Tag der ersten freien Volkskammerwahl, sei das Votum eindeutig gewesen: „Etwa 80 Prozent der Menschen wollten den schnellsten Weg, an die D-Mark ranzukommen.“
Die Revolution selbst hatte viele Ursachen, das System war morsch. Aber auch wenn ein System morsch ist und diese Institutionen nicht mehr funktionieren, braucht man mutige Menschen, die ihre Angst überwinden und dem System den letzten Tritt geben. Das waren dann zwei-, drei-, vier-, fünfhunderttausend Ostdeutsche. Auch diejenigen, die abgehauen sind, waren ein wichtiger Motor für die Revolution und natürlich die Leute, die demonstriert haben. (Ilko-Sascha Kowalczuk)
Paul Löser zeigte sich skeptisch, ob eine Verfassungsdiskussion die Identifikation mit dem Grundgesetz hätte stärken können. Er warnte davor, dass solche Debatten oftmals in kleinen, elitären Kreisen verblieben. Themen wie der wirtschaftliche Strukturwandel seien viel näher an der Alltagswirklichkeit der Menschen als abstrakte verfassungspolitische Debatten. Zudem könne die Anziehungskraft unserer Demokratie gestärkt werden, indem man jungen Menschen mehr Gelegenheiten gebe, Selbstwirksamkeit zu erfahren und sich aktiv einzubringen. Gerade in den ländlichen Regionen Sachsens sei dies in den letzten 30 Jahren aber zu kurz gekommen.
Judith Enders unterstützte diese Sicht und betonte, dass politische Bildung nicht nur in Schulen, sondern auch in informellen Räumen stattfinden müsse. „Es geht darum, Demokratie selbst zu erleben.“
Der Mauerfall bedeutet für mich einen ersten Schritt, dass ich heute und seit meiner Geburt in Freiheit und Demokratie hier in Ostdeutschland leben kann. Und es ist auch ein Auftrag für mich als politisch engagierter Mensch, weiterhin dafür zu kämpfen, dass wir Freiheit und Demokratie in meinem Lebensumfeld, aber auch in Sachsen und ganz Deutschland bewahren. (Paul Löser)
Wo sind die positiven Gegenerzählungen?
Zum Abschluss brachte Ilko-Sascha Kowalczuk einen weiteren Aspekt ein: die Notwendigkeit, positive neue Erzählungen zu etablieren. In Ostdeutschland dominiere zum Teil in Ostdeutschland eine „Jammererzählung“ über die Transformationszeit, so der Historiker.
„Warum eigentlich nicht mal die Erfolge der Revolution und Transformation hervorheben?“ fragte er. „Es gibt in Sachsen und Thüringen ganz viele mittelständische Betriebe, die im Zuge der Revolution, der Transformation gegründet worden sind. Die regelrechte Weltkarrieren gemacht haben, die ganz erfolgreich sind, die zur Etablierung des Wohlstands in Thüringen und Sachsen beigetragen haben. Die finden im öffentlichen Raum nicht statt. Warum eigentlich nicht? Das wären sozusagen mal positive Gegenerzählungen.“
Dieser Artikel erschien zuerst hier: www.boell.de