Zwei Kreuze machen

Am 30. April veranstaltete das Team von „WIR STIMMEN!“ die Symbolischen Wahlen in Kiel, Geesthacht und Neumünster für Menschen ohne deutschen Pass. Die Ergebnisse überraschen und zeigen deutlichen Handlungsbedarf der Politik auf. Gleichzeitig startete die Petition „Wahlrecht für alle“.

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Auf einem Platz steht vorne eine Wahlkabine, auf der steht: Wähle hier symbolisch. Dahinter ist ein Pavillon aufgebaut, vor dem eine Gruppe von Menschen steht.

Warten auf's Wahlrecht

„Ich wohne und arbeite schon seit 47 Jahren hier in Deutschland und habe immer noch kein Wahlrecht.“, meint resigniert ein älterer Herr aus Mettenhof. Seine Frau und er sind sofort begeistert von der Aktion der Symbolischen Wahlen und machen gerne ihre zwei Kreuze auf dem Stimmzettel. Die Aktion der Projektpartnerschaft „Transparenz und Respekt“ zwischen Flüchtlingsrat SH und der Heinrich-Böll-Stiftung S-H macht anlässlich der Landtagswahlen 2022 in Schleswig-Holstein darauf aufmerksam, dass Menschen mit dauerhaftem Wohnsitz in Schleswig-Holstein, die jedoch keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, von Kommunal- und Landtagswahlen ausgeschlossen werden.

Start in den Tag

Grau, windig und kühl beginnt der Samstag Ende April in der Landeshauptstadt Kiel. Um neun Uhr morgens scheint die Stadt noch verschlafen. Noch sind nur vereinzelt Menschen auf den Straßen unterwegs. Auf drei belebten Plätzen – dem Vinetaplatz, Asmus-Bremer-Platz und Kurt-Schumacher-Platz – ist das junge Team unserer Landesstiftung damit beschäftigt, Pavillons, Tische, Wahlkabinen und Wahlurnen aufzubauen. Es ist der 30. April, eine Woche vor den Landtagswahlen. An diesem Tag finden die Symbolischen Wahlen statt. Mit bunten Infomaterialien und Plakaten auf verschiedenen Sprachen macht das Team auf sich und ihr Anliegen aufmerksam. Hier, an den insgesamt sechs Wahlkabinen, können Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft zwischen 10 und 18 Uhr symbolisch ihre Stimme abgeben.

Endlich auch ein Kreuz setzen

Die Aussprüche der Wählenden ähneln sich, so heißt es von einem weiteren Teilnehmer aus Gaarden: „Ich wohnte seit über 30 Jahren in Deutschland und mich hat noch nie jemand gefragt, ob und was ich wählen möchte.“ Viele zeigen sich interessiert und begeistert von der Aktion der Symbolischen Wahlen, da viele Menschen sonst kaum die Möglichkeit haben, ihren politischen Willen zum Ausdruck zu bringen. Menschen, die seit Jahren und Jahrzehnten in Deutschland und Schleswig-Holstein leben und hier ihren dauerhaften Wohnsitz, ihre steuerpflichtige Arbeitsstelle, sowie Familie haben, sind nach dem Wahlgesetz dennoch von sämtlichen politischen Wahlen ausgeschlossen, obwohl sie – wie alle in Deutschland lebenden Personen – gleichermaßen von politischen Entscheidungen betroffen sind. 

Erklärungen zum Wahlsystem notwendig

Durch den bestehenden Wahl-Ausschluss dieser Menschen zeigt sich zusätzlich, dass viele der Teilnehmenden kaum mit dem komplexen deutschen Wahlsystem vertraut sind: „Viele konnten die ausliegenden Informationen kaum verarbeiten. Und es gab zu viele ungültige Stimmen – 60 Erststimmen und 48 Zweitstimmen. Eine intensivere Auseinandersetzung im Vorhinein ist unbedingt notwendig. Menschen sollten nicht uninformiert wählen.“, sagt Newroz Meslem aus dem Symbolische Wahlen Team.

Viele sind frustriert

Hinzu kommt, dass viele Teilnehmer*innen nicht nur mit dem Wahlsystem überfordert waren, sondern auch ihre Stimmabgabe gezielt verweigerten, da sie keine Hoffnung auf Verbesserung hatten oder Angst vor Restriktionen äußerten. Dies verdeutlicht abermals, wie frustrierend der politische Ausschluss für die Betroffenen ist, die ihre fehlende politische Repräsentation in Resignation verwandeln. 

Politiker*innen vor Ort

Im Vorfeld wurden politische Parteien dazu eingeladen, der Aktion beizuwohnen und Rede und Antwort in Bezug auf dieses wichtige Thema zu stehen. Viele nahmen diese Einladung an und unterstützen die Helfer*innen der Symbolischen Wahlen mit ihrem Besuch. Der Stand am Vinetaplatz wurde von Nelly Waldeck (Grüne), Lea Barckhan und Simon Wadehn (Volt) besucht und unterstützt. Begrüßt wurde die Aktion ebenfalls vom benachbarten CDU Stand mit Seyran Papo. Der Stand auf dem Asmus-Bremer Platz wurde von Marwin Schmidt (SSW), Anna Langsch und Lasse Petersdotter und Maik Kristen (Grüne) sowie Özlem Ünsal und Mathias Stein (SPD) besucht. In Mettenhof zeigten sich lediglich die Direktkandidatin Yana Käding von DIE PARTEI und Johann Knigge-Blietschau (Die Linke) interessiert.

„Wir freuen uns, dass viele Kieler Politiker*innen Interesse an diesem Thema zeigen. Aber dass so wenig Politiker*innen nach Mettenhof kamen, macht deutlich, wie wenig Bedeutung den Bewohner*innen bei der Wahl zugemessen wird.“, sagt Natalie Demmer aus dem Symbolische Wahlen Team der Heinrich-Böll-Stiftung SH. „Es gibt noch viel zu tun. Wenn Politiker*innen sich bei Aktionen wie unserer lediglich inszenieren, aber nicht beherzt handeln, verlieren sie das Vertrauen der Bevölkerung. Das haben wir heute häufig gehört. Das Thema Wahlrecht für alle ist schon längst überfällig. Genauso wie politische Bildung.“, ergänzt Newroz Meslem bestimmt.

Wichtigkeit ohne Frage

Genau deswegen ist das Projekt so wichtig, betont eine Initiatorin des Projektes. Den Menschen ohne Stimme soll eine Wahl ermöglicht werden – bestenfalls bald nicht mehr nur symbolisch. Nicht nur in Kiel konnten so vielen Menschen erreicht werden. Am gleichen Tag hatten auch Menschen in Neumünster am Großflecken von 12 bis 18 Uhr und in Geesthacht auf der Bergedorfer Straße vom 29.03. bis 30.03. zwischen 10 und 18 Uhr die Möglichkeit, zu wählen. Es gab zusätzlich die Möglichkeit, über ein Online-Umfrage-Tool abzustimmen, was ebenfalls gut angenommen wurde. „Demokratien leben von der Partizipation ihrer Einwohner*innen. Ich freue mich daher sehr über das hohe Interesse an unserer Aktion.“, sagt die Projektkoordinatorin Natalie Demmer.

Ergebnisse der Symbolischen Wahlen

Im Gegensatz zu den schleswig-holsteinischen Landtagswahlen vom 8. Mai erreicht die SPD die größte Mehrheit der Zweitstimmen mit 31,4 Prozent der Stimmen, gefolgt von den Grünen mit 22,1 Prozent und den CDU mit 21,6 Prozent. Auch die LINKE schafft bei den Symbolischen Wahlen mit 6,9 Prozent den Einzug in den Symbolischen Landtag.

Ende ist erst der Anfang

Es war ein langer Tag für das kleine Team der Symbolischen Wahlen. Sehr erschöpft, aber auch sehr zufrieden setzt sich das diverse Team im Böll-Büro der HBS SH im Anscharpark zusammen. Eifrig werden die Stimmen ausgezählt und die bewegenden Eindrücke des Tages bei einem wohlverdienten Abendessen ausgetauscht. Die Symbolischen Wahlen in SH 2022 sind nach der Ausarbeitung und Bekanntmachung der Ergebnisse nur vorläufig abgeschlossen. Denn klar ist: das Thema „Wahlrecht für alle“ ist hiermit noch nicht beendet und muss künftig am Ursprung – der strukturellen Ebene – bearbeitet werden, um eine bedingungslose politische Partizipation zu ermöglichen. Vor diesem Hintergrund wurde zeitgleich die vierwöchige Online-Petition mit dem Titel „Wahlrecht für Alle“, eröffnet, was dem Thema über die Aktion der Symbolischen Wahlen hinaus Gehör verschaffen soll. Gewiss ist, wir machen weiter, denn jedes Lächeln der Teilnehmenden, die sich an diesem Tag gesehen gefühlt haben, nehmen wir als Motivation, um auf unsere bisherige Arbeit aufzubauen. 

 

Die „Symbolische Wahlen“ sind eine Aktion der Projektpartnerschaft „Transparenz und Respekt“, die aus dem Flüchtlingsrat SH der Heinrich-Böll-Stiftung SH besteht und vom AMIF (Asyl- Migrations- und Integrationsfonds) gefördert wird.