Die Projektpartner*innen aus Gdynia, Guldborgsund, Kiel, Kolding, Riga und Pori kamen am 13. und 14. März in der Hafenstadt Gdynia in der Danziger Bucht zusammen, um auf der Liveability-Reise den nächsten Schritt zu gehen.
Das Interreg-Projekt Liveability geht der Frage nach, wie wir unsere Städte zukünftig lebenswerter gestalten können. Ziel des Projekts ist es, öffentlichen Verwaltungen innovative Methoden an die Hand zu geben, um gemeinsam mit Bewohner*innen lebenswerte und attraktive Stadtumgebungen zu schaffen. Im Fokus der Betrachtung stehen mittlere und kleine Städte rund um die Ostsee.
Städte und Kommunen in Europa stehen vor komplexen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Öffentliche Verwaltungen sind mit verschiedenen Krisen konfrontiert. Da unsere heutigen Methoden nicht mehr passen mögen, bedarf es neuer Bewältigungsstrategien unter transnationaler Zusammenarbeit, damit wir uns gemeinsam auf den Weg begeben können, lebenswerte Städte von morgen zu gestalten.
Anna Emil, Change Agent im Pilotprojekt der Stadt Kiel fasst ihre Vision einer lebenswerten Stadt so zusammen:
„Für mich ist eine lebenswerte Stadt, mit ihren Menschen, Gebäuden, Restaurants und mehr, grün, blau und vielfältig. Sie ist ein kinderfreundlicher Ort, mit dem sich die Einwohner*innen verbunden fühlen. Ein Ort, an dem sich die Menschen für ihre Umgebung verantwortlich fühlen und die Möglichkeit haben, sich an Entscheidungen zu beteiligen und ihre Stadt mitzugestalten. Es ist eine Stadt, in der Dienstleistungen leicht zugänglich sind und in der die Bewohner*innen das Gefühl haben, bei der Entfaltung ihres Potenzials unterstützt zu werden.“
Anwendung der Methode Public Interest Design
Wie können wir den heutigen Herausforderungen entgegenwirken und kreative, flexible und transparente Lösungen schaffen, die zuallererst die Bedürfnisse der Einwohner*innen, aber auch anderer Lebewesen im Lebensraum Stadt berücksichtigen und damit das kollektive Wohlbefinden fördern?
Public Interest Design (PID) scheint ein geeigneter methodischer Rahmen für diese Ziele zu sein. PID stellt das öffentliche Interesse und das gemeinschaftliche Wohlergehen in den Mittelpunkt der Planungsprozesse. Was braucht es, damit Behörden die aktive Bürgerschaft in Planungsprozesse einbeziehen, um gemeinsam Ideen für ein künftiges städtisches Leben zu entwickeln? Was ist für die Verbesserung der Lebensqualität notwendig, und welche öffentlichen Dienstleistungen werden dazu benötigt? Damit Städte näher, agiler und reaktionsfähiger werden, bedarf es Stadtverwaltungen, die die Mitarbeitenden ermutigen, innovativ zu denken und partizipative Methoden anzuwenden. Das Projekt will sie auf den Weg bringen, die PID-Designprinzipien in der Praxis anzuwenden und in Strategien zu verankern.
Zweites Lebensjahr des Liveability Projekts
Elf Organisationen, davon sechs Kommunen im Ostseeraum (Gdynia, Guldborgsund, Kiel, Kolding, Pori und Riga), entwickeln gemeinsam eine nutzer*innenzentrierte Herangehensweise, die gegenwärtig in einem nachbarschaftlichen Quartier in jeder Stadt erprobt wird. Die unterschiedlichen Hintergründe der Partner*innen aus Verwaltung, Kultur und Design ermöglichen einen vielfältigen Blick auf diese Fragestellungen und kreative Lösungsansätze.
Liveability hat sich 2023 auf den Weg gemacht, um die Vision lebenswerter Städte zu verbreiten und befindet sich mittlerweile im zweiten Jahr. Nachdem im ersten Jahr die Projektidee und Grundlagen im Fokus standen, geht es nun darum, die entwickelten Lösungsansätze in den jeweiligen Städten zu pilotieren. Nach dem Kickoff-Treffen in Kiel und Zusammenkünften in Kolding, Pori und Tallinn in 2023, kamen die Teilnehmenden jetzt wieder persönlich – dieses Mal in der polnischen Stadt Gdynia – zusammen, um ihre jeweils entwickelten Pilotprojekte näher vorzustellen und miteinander in Bezug zu nehmen. Oft ähneln sich die Frage- und Problemstellungen in den einzelnen Städten. Ziel des Treffens war es, in Gdynia mehr Raum für den persönlichen Dialog und die genauere Betrachtung der Pilotprojekte zu geben. Was können wir in Bezug auf die Projektrealisierung voneinander lernen? Und wo hapert es noch bei der Umsetzung? Ein von der Estonian Academy of Arts speziell zugeschnittenes Coaching-Programm trug dazu bei, einen problemlösenden Austausch innerhalb der drei Städtepaare Kiel-Riga, Gdynia-Guldborgsund und Pori-Kolding zu ermöglichen.
Geschichtsträchtiger Ort bietet Raum für Zusammenkunft
Gdynia bereitete für dieses Partnertreffen den perfekten Ausgangsort. Mit rund 250.000 Einwohner*innen ist Gdynia (deutsch Gdingen) ähnlich groß wie die Landeshauptstadt Kiel und liegt nur 22 km von Danzig (polnisch Gdańsk) entfernt. Auch wenn die Geschichte Gdynias bis ins Jahr 1253 zurückgeht, erhielt Gdynia erst 1926 das Stadtrecht und ist somit eine recht junge Stadt. Aus einem Fischerdorf entstanden, entwickelte sich Gdynia rasch zur Großstadt. Und damit entstand das Stadtzentrum in einem einheitlichen architektonischen Stil, was städtebaulich besonders ist. Ausschlaggebend für die charakteristische Architektur ist der Modernismus, ein Stil in der europäischen Architektur der 1920er und 1930er Jahre, gekennzeichnet durch Einfach- und Offenheit, Funktionalität und moderne Konstruktionslösungen.
Am Tag der Ankunft wurden die Projektpartner*innen im ältesten Café der Stadt Café Cyganeria herzlich in Empfang genommen. Beim ersten Austausch lag die Vorfreude auf die kommenden Tage in der Luft.
Liveability Pilotprojekte in Gdynia
Der erste Programmtag startete mit einem Ausflug, für den die Stadt Gdynia eigens für die Liveability-Gruppe einen öffentlichen Bus zur Verfügung stellte. Zunächst konnte das Projektteam einen spannenden Einblick in das System des städtischen Gemeindezentrums erhalten. Zwei Gemeindezentren wurden besucht, um den integrativen Charakter und das breite Angebot an sozialen Aktivitäten und Dienstleistungen Gdynias für die Bewohner*innen zu zeigen.
Den Anfang machte das Nachbarschaftshaus „Przystań“, das Teil eines Netzwerkes von acht Gemeindezentren der Stadt ist. Seit fünf Jahren fungiert es als Gemeindezentrum für Anwohner*innen. Es werden Koch- und Yogakurse angeboten, die Nachbarschaft tauscht sich bei Kaffee und selbstgebackenem Kuchen aus. Kinder können hier nach der Schule ihre Hausaufgaben machen. Für Geflüchtete aus der Ukraine bietet „Przystań“ (deutsch Hafen) seit 2022 eine sichere Anlaufstelle. Der feste Stock von Beschäftigten der Einrichtung arbeitet in Vollzeit – von vielen Ehrenamtlichen unterstützt.
Die Mitarbeiterinnen Renata Dębska und Małgosia Śleszyńska nahmen die Liveability-Gruppe mit auf Entdeckungstour durch das Haus und erzählten bildhaft wie lebendig es in dem Gemeindezentrum zugeht, aber auch mit welchen Herausforderungen es zu tun hat. Den Bewohner*innen steht ein breites Workshop-Angebot zur Verfügung. Das Angebot richtet sich nach den Bedürfnissen und Belangen der Nutzer*innen. So werden Workshops auch mal mit ungewöhnlichen Inhalten angeboten. Die Teilnehmer*innen sprachen sich zuletzt für ein Selfcare-Thema aus. Der Workshop wurde zum vollen Erfolg. Dem Liveability-Team präsentierte sich ein engagiertes Team in einer freundlich einladenden Atmosphäre mit einer Küche im Zentrum, hellen Gemeinschafts-, Bewegungs- und Ruheorten. Die Partner*innen konnten einen geschützten Raum für die Gemeinschaft kennenlernen, in dem es gesellig zugeht.
Dann ging es mit dem Bus weiter zu einem Jugendzentrum in einem anderen Stadtteil, das schon über zehn Jahre besteht. „Wymiennikownia“ ist ein belebter Ort für junge Menschen mit einer Vielfalt an Angeboten von Breakdance über Karate, Bastel- und Kochworkshops, ein Sprachclub in englischer Sprache bis hin zu Mental Health Kursen.
Das engagierte und junge Team zog die Partner*innen mit ihren lebhaften Schilderungen über ihre aktive Jugendarbeit in ihren Bann und führte durch die dekorativ gestalteten Räumlichkeiten mit Küche, Näh- und Breakdance-Studio.
Die Besonderheit liegt in der demokratischen Grundhaltung des Jugendzentrums. Die Mitarbeitenden haben jederzeit ein offenes Ohr. Die jungen Leute können an allen Aktivitäten teilnehmen, müssen es aber nicht! Sie können hier ihre Zeit auf ihre eigene Art und Weise verbringen und ihre eigenen Ideen verwirklichen. Dieses Konzept fand bei den Zuhörer*innen besonders viel Anklang. Eigenes Engagement wird unter der Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse und Voraussetzungen gefördert. „Wymiennikownia“ stellt für die Jugendlichen ein „Safespace" dar.
Beide Einrichtungen konnten dem Projektteam einen tiefen Einblick in die sozialen Aktivitäten geben und spiegeln Gdynias Engagement und Gestaltung der öffentlichen Dienstleistungen wider, die auf die Verbesserung der Lebensfähigkeit der Stadt abzielen.
Konkrete Umsetzungen der Pilotprojekte in den Städten
Nach diesem lebendigen Austausch mit der Stadt Gdynia, der bleibenden Eindruck hinterließ, ging es für die Teilnehmenden an die Arbeit. An beiden Programmtagen standen ihnen die modernen Räumlichkeiten der „Urban Lab“ im Pomeranian Science and Technology Park zur Verfügung. Der erste Tag der Workingsessions wurde dafür genutzt, die Partner*innen auf den aktuellen Stand ihrer jeweiligen Pilotprojekte zu bringen und den Jetzt-Zustand vorzustellen. War zuletzt vieles noch in der Entstehungsphase, konnten endlich konkrete Umsetzungen gezeigt werden. Jede Partnerstadt konnte somit nicht nur ihre Fortschritte widerspiegeln, sondern sich auch über fruchtbaren Input der Zuhörenden freuen. Es herrschte Begeisterung für jedes realisierte Projekt, gepaart mit der Aufbruchstimmung der Liveability Vision.
In der Mittagspause erhielt das Projektteam noch mal eine andere Facette der Stadtgeschichte und ihrer Bewohner*innen. Schon auf dem Weg zum Veranstaltungsort fiel ein Abschnitt mit Gartenparzellen zwischen der modernen Architektur auf und stand mit den Bürogebäuden im krassen Kontrast. Der Weg führte zu einem gelben Haus. Nachdem die Projektpartner*innen eine schmale, steile Treppe erklommen, befanden sie sich in einem Wohnzimmer mit festlich geschmücktem Tisch. Die Gastgeber*innen nahm sie herzlich in Empfang und nach einem kurzen Grußwort wurde keine Zeit verloren und sofort aufgetischt. Das Haus wird von der kaschubischen Minderheit als Restaurant und Begegnungsstätte betrieben und ermöglicht so einen Einblick in ihre Kultur. Neben Restaurantbetrieb umfasst das Angebot u.a. Catering und Schulungsküche. Kindergärten und Schulen in der Umgebung werden mit Mittagessen beliefert. Auf der Speisekarte stehen traditionelle, hausgemachte kaschubische und polnische Speisen. Nach solchen intensiven Eindrücken ging es wieder an die Arbeit.
Liveability Label und Netzwerkaufbau
Neben der Betrachtung der einzelnen Pilotprojekte in den Städten, wurde überlegt, wie die Reise von Liveability weitergeht. Nach der dreijährigen Projektphase soll das Netzwerk ausgebaut und die Vision von einer lebenswerten Stadt im gesamten Ostseeraum weitergetragen werden. „Liveability Cities“ sind Städte, die sich gegenseitig inspirieren und voneinander lernen, aber insbesondere auch gemeinsam mit ihren Einwohner*innen ihre Städte und Kommunen gestalten. Die Idee von Twinning-Städten ist geweckt und geeignete Kandidaten sind schon im Gespräch. Die ersten sechs Städte mit ihren Pilotprojekten treten als Multiplikator auf und nehmen die Kandidaten auf der Liveability Reise bei der Hand.
Parallel gestaltet sich das Gesicht des Projekts: Die Estonian Academy of Arts befindet sich in der abschließenden Gestaltungsphase des Liveability Labels. Um das Programm zu übertragen, wird ein Gütesiegel für „lebenswerte Städte“ entwickelt und weitere Projekte werden eingeladen, Teil des Netzwerks lebenswerter Städte im Ostseeraum zu werden.
Der zweite Tag des Partnertreffens konzentrierte sich auf den Teamaustausch und der Pilotierung des Schulungsprogramms. Mit Hilfe der Coaching-Sitzungen in den Zweiergruppen wurden die Betrachtungen der einzelnen Pilotprojekte der Partnerstädte vertieft und ermöglichten einen problemorientierten Austausch innerhalb der drei Städtepaare Kiel-Riga, Gdynia-Guldborgsund und Pori-Kolding. Spannend gestaltete sich der Sitzungsprozess: Zuerst erörterte die jeweilige Stadt ihre aktuelle Situation in ihrer Testumgebung und eine zentrale Problemstellung innerhalb ihres Piloten. Jörn Frenzel, Professor für Service Design an der Estonian Academy of Arts, nahm im nächsten Schritt das eigens dafür erstellte Coaching-Konzept zur Hilfe und skizzierte die wichtigsten Punkte. Mit Hilfe von Zeichnungen und Maps wurde das Problem dargestellt und mit weiteren Fragestellungen eingegrenzt. Danach kamen die Überlegungen der jeweiligen „Schwesternstadt“ hinzu und wie sie mit ihrem Wissen helfen könnte. Die Partner*innen konnten Input geben und zu der Problemlösung beitragen. Wenn jede Stadt auch mit ihren eigenen Beschaffenheiten und Problematiken zu kämpfen hat, ähnlich sich doch auch die Bedingungen, die universal auftreten. Am Ende ging jede Stadt mit einer möglichen Problemlösung und mit Auftrieb für die nächsten Umsetzungsschritte zuhause aus der Session.
Die Zeit verging wie im Flug, am Ende des zweiten Programmtages wurden die Ergebnisse wieder in großer Gruppe zusammengefasst, bewertet und reflektiert. Wie geht es mit dem Projekt weiter? Und vor allem: Wann treffen sich die Partner*innen wieder? Die Teilnehmenden waren erschöpft aber glücklich über die zwei vollgepackten Meetingtage mit dem fruchtbaren Austausch und zeigten sich optimistisch für die Zukunft der Projektentwicklung. Bis zum Projektende 2025 möchte das internationale Team zum Ziel „Responsive Public Services“ des Interreg Ostseeprogramms mit dem Projekt Liveability beitragen. In den drei Jahren wird das Projekt durch Interreg Baltic Sea Region gefördert.
Nach diesem erfolgreichen Abschluss wurde die verbliebene Zeit des Tages für eine Erkundungstour durch das moderne Gdynia oder einen kleinen Abstecher in die historische Altstadt Danzigs genutzt. Ins Gepäck für die nächsten Schritte nahm das Projektteam den forschen Liveability-Geist mit in die Zukunft.
Liveability wird durch das Interreg-Programm für den Ostseeraum der EU finanziert. Das Projekt will Stadtverwaltungen schulen, das städtische Leben der Zukunft zu entwickeln, um Städte und Kommunen lebenswerter zu machen. Die Heinrich-Böll-Stiftung SH fungiert als Leadpartnerin des Projekts.
Mehr zum Projekt gibt es auf unserer Website sowie der Interreg-Homepage.